Die grauen Seelen
mich, dass er sagte, er sei sehr froh, einen Arm verloren zu haben, zumal den linken, das sei ein großes Glück für ihn, den Rechtshänder. In sechs Tagen sei er zu Hause, und zwar für immer. Weit weg von diesem Krieg der gehörnten Ehemänner, wie er sich ausdrückte. Ein verlorener Arm, das seien etliche gewonnene Jahre. Lebensjahre. Das wiederholte er in einem fort und zeigte mir seinen Stumpf. Er hatte ihm sogar einen Namen gegeben, dem fehlenden Arm: Gugusse. Ständig sprach er mit Gugusse, rief ihn zum Zeugen an, neckte ihn. Das Glück kann an Kleinigkeiten hängen. Mal an einem Faden, mal an einem Arm. Der Krieg kehrt das Unterste zuoberst: Er bringt es fertig, aus einem Amputierten einen glücklichen Mann zu machen. Leon Castrie hieß dieser Soldat. Er stammte aus Morvan. Er bot mir eine Zigarette nach der anderen an. Er betäubte mich mit Worten, und das hatte ich bitter nötig. Er stellte mir keine einzige Frage. Verlangte noch nicht einmal, dass ich mich mit ihm unterhielt. Das Gespräch bestritt er ganz allein mit seinem verlorenen Arm. In dem Moment, als er sich entschloss, sich von mir zu verabschieden, stand er auf und sagte: «Wir müssen los, Gugusse und ich.» Es war Zeit für die Suppe. Castrie. Leon Castrie, einunddreißig Jahre alt, Gefreiter im 127. Regiment, aus Morvan, Junggeselle, Bauer. Der das Leben und die Kohlsuppe liebte. Das ist alles, was ich behalten habe. Ich wollte nicht nach Hause zurück. Ich wollte dort bleiben, auch wenn es nichts half.
Eine Krankenschwester kam. Es war bereits Abend. Sie sagte, das Kind sei gerettet, ich könne es sehen, wenn ich wolle, ich solle ihr folgen. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nur Clemence sehen. Ich fragte nach ihr. Die Krankenschwester sagte, sie werde den Arzt fragen. Dann ging sie.
Später kam der Arzt, ein erschöpfter, todmüder Mann in Uniform. Er war als Metzger verkleidet, als Ochsenschlächter, seine Schürze und sein Schiffchen blutbeschmiert. Seit Tagen operierte er ohne Pause, hinterließ manchmal Glückliche, häufig Tote, immer Versehrte. Eine junge Frau war für ihn eine Art Irrtum inmitten all dieser Männer. Auch er erzählte mir von dem Neugeborenen, das groß sei, zu groß, als dass es alleine hätte herauskommen können. Er sagte, das Kind sei gerettet. Dann gab auch er mir eine Zigarette. Ein schlechtes Zeichen, diese Zigaretten kannte ich allzu gut, denn ich selbst hatte sie schon an Burschen verteilt, von denen ich wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatten oder nicht mehr lange in Freiheit bleiben würden. Wir rauchten eine Weile, ohne zu sprechen. Dann sagte er, während er Rauch ausblies, meinem Blick ausweichend: «Sie hatte zu viel Blut verloren.» Sein Satz blieb in der Luft hängen wie der Rauch unserer Zigaretten. Er kam nicht wieder hinunter, endete nicht. Plötzlich bekam ich Lust, ihn zu töten, diesen armen Teufel mit den Ringen unter den Augen und dem Dreitagebart, der sich in seinen Sätzen verhaspelte, diesen Mann am Ende seiner Kräfte, der alles getan hatte, um sie ins Leben zurückzuholen. Niemals, da bin ich ganz sicher, habe ich so große Lust gehabt, jemanden mit meinen eigenen Händen zu töten. In Raserei zu töten, zornig und gewalttätig. Töten.
«Ich muss wieder», sagte er und warf seine Kippe auf den Boden. Dann legte er die Hand auf meinen Arm, während ich noch von Mordphantasien geschüttelt wurde. «Sie können sie sehen», sagte er. Und ging, müde und langsam.
Die Welt hört nicht auf, sich zu drehen, nur weil ein paar Menschen leiden. Und Schweine bleiben Schweine. Vielleicht gibt es keinen Zufall, das habe ich schon oft gedacht. Bei eigenen Tragödien wird man sehr egoistisch. Vergessen waren Belle de Jour, Destinat, Josephine in ihrem Kerker, Mierck und Matziev. Als ich zur Stelle hätte sein sollen, war ich es nicht, und die beiden Dreckskerle nutzten das aus, um in aller Ruhe ihr Süppchen zu kochen, fast als hätten sie Clemences Tod bestellt, um mich loszuwerden und die Ellbogen frei zu bekommen. Und sie setzten sie ein, skrupellos. Ein Verbrechen wie die Affäre erschüttert einen ganzen Landstrich, das können Sie mir glauben. Es ist wie eine Welle: ein Sturmritt, der alles auf seinem Weg erzittern lässt. Ein Mord erregt Grauen bei den Menschen und liefert ihnen gleichzeitig Gesprächsstoff, beschäftigt ihre Köpfe genauso wie ihre Zungen. Dennoch, dass ein Mörder sich in der Gegend herumtreibt, dass er da ist, ganz in der Nähe, dass man ihm vielleicht
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