Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
mußte. Es waren auch noch andere Aromen dabei, alle nicht gerade angenehm, und obwohl das Ganze nicht scharf war, brannte ihr doch der ganze Mund, als hätte sie zu viele von den kleinen gelben Marash-Schoten gegessen.
    »Jetzt schließe die Augen, Kind«, befahl Panhyssir mit seiner tiefen, pompösen Stimme, als sie den Kelch geleert hatte. »Laß den Gott zu dir kommen und dich berühren. Es ist eine große, große Ehre.«
    Die Ehre kam schneller als sonst, und diesmal war es nicht nur eine leichte Berührung, eine vage, flüchtige Liebkosung wie an anderen Tagen. Es war vielmehr, als ob sie von etwas Riesigem gepackt und durchgeschüttelt würde. Es begann als Wärmegefühl ganz hinten in ihrem Magen und breitete sich dann rasch entlang der Wirbelsäule aus, nach oben und unten zugleich, wie ein knisterndes Feuer in dürrem Gras, und lohte dann schließlich hinter ihren Augen und zwischen ihren Beinen so heftig auf, daß sie vom Stuhl gefallen wäre, wenn der junge Priester sie nicht festgehalten hätte. Sie fühlte seine Hände, so weit, weit weg, als berührten sie eine Statue von ihr statt der echten Qinnitan. Die Woge von Lärm und Dunkel, die in ihren Kopf einbrach, war so mächtig, daß sie einen schrecklichen Moment lang sicher war, sie würde sterben, ihr Schädel würde bersten wie ein Kiefernzapfen im Küchenfeuer.
    »Hilfe!« schrie sie — oder wollte sie schreien, aber die Worte waren nur in ihrem Kopf. Was aus ihrem Mund kam, war nur ein tierisches Grunzen.
    »Legt sie hin«, befahl Panhyssir. Seine Stimme schien aus einem anderen Raum zu kommen. »Diesmal hat es sie wahrhaftig ergriffen.«
    »Ist irgendwas nicht ...?« Qinnitan konnte den jungen Priester nicht sehen — sie war in nachtdunklem Nebel aber er klang erschrocken. »Wird sie ...?«
    »Sie fühlt die Berührung des Gottes. Sie wird vorbereitet. Leg sie auf die Kissen, damit sie sich nicht verletzt. Der große Gott spricht zu ihr ...«
    Aber das stimmt nicht,
dachte Qinnitan, als Panhyssirs Stimme immer schwächer wurde und sie schließlich allein im Dunkel zurückblieb.
Niemand spricht zu mir. Ich bin ganz allein. Ganz allein!
    Es verdichtete sich um sie herum — obwohl sie keine Ahnung hatte, was »es« war. Es fiel ihr schon schwer genug, nur festzuhalten, was sie war und wer sie in ihrem Herzen war: Das Dunkel drohte es wegzusaugen, all das, was sie zu Qinnitan machte, so wie ihr die Winterabende ihrer Kindheit die Wärme vom Gesicht gerissen hatten, wenn sie, schwitzend vom Spiel mit ihren Cousinen, nach draußen gerannt war.
    Jetzt veränderte sich das Dunkel. Sie konnte immer noch nichts sehen, aber die Leere um sie herum wurde hart wie Kristall, und jeder Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, schien diesen Kristall zum Klingen zu bringen — ein tiefes, langsames Schwingen wie von einer riesigen Glocke aus Eis. Qinnitan verstand jetzt, wie es war, ein Stein zu sein, reglos in der Erde zu liegen und Gedanken ganz auszudenken, so langsam wie sich Berge erhoben, verstand, wie es sich anfühlte, nicht nur ein paar flüchtige Momente zu leben, sondern Jahrtausende, jeder Traum ein ganzes Zeitalter.
    Und dann fühlte sie etwas außerhalb ihrer selbst, aber nah — beängstigend nah, als ob sie eine Fliege wäre, die ahnungslos auf dem Bauch eines Schlafenden herumkrabbelte.
    Eines Schlafenden? Vielleicht nicht. Denn jetzt spürte sie das ganze Ausmaß der Gedanken, die sie umgaben und durchdrangen, Gedanken, die sie einen Moment lang für ihre eigenen gehalten hatte, obwohl sie jetzt merkte, daß sie diese unermeßlich weiten Gedanken so wenig verstand wie die grollende Sprache eines Erdbebens.
    Nushash?
Konnte es der große Gott selbst sein?
    Qinnitan wollte nicht mehr in dieses diamantharte, klingende Dunkel eingesperrt sein. Das Pulsen des langsamen göttlichen Denkens war zu viel für ihren kleinen Verstand, so fern und so viel, so viel größer als sie oder irgendein bloßer Mensch jemals sein konnte, so groß wie ein Berg — nein, so groß wie ganz Xand und noch größer, etwas, das sich über den ganzen Nachthimmel legen und ihn ausfüllen konnte wie ein Grab.
    Und dann bemerkte es sie.
    Qinnitan fuhr hoch, wild um sich schlagend. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, als wollte es ihr aus der Brust springen. Als sie im hellen Schein der Laternen des kleinen Tempelraums zu sich kam, weinte sie so heftig, daß sie dachte, ihr würden die Knochen brechen, und im Rachen hatte sie einen Geschmack wie von Leichenfleisch. Der

Weitere Kostenlose Bücher