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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
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Aber ich kann doch sonst niemanden fragen. Chaven kennt sich in solchen Dingen aus. Vielleicht kann er mir ja sagen, was es damit auf sich haben könnte — ob ein Spiegel irgendwie mehr sein kann als nur ein Spiegel ...

    Briony trug den Brief seit Stunden mit sich herum, hatte immer wieder die vertraute Schrift betrachtet, als handelte es sich um das Gesicht ihres Vaters und nicht nur um Worte von seiner Hand. Ihr war gar nicht bewußt gewesen, wie sehr sie ihn vermißte, bis sie den Brief gelesen hatte, und beim Lesen hatte sie seine geliebte Stimme gehört, als ob er mit ihr hier im Raum wäre, nicht viele hundert Meilen weit weg und das schon seit einem halben Jahr. Konnte etwas so Persönliches, Intimes wie dieser Brief der Grund für Kendricks Ermordung gewesen sein?
    Aber für etwas, das auf so schmerzliche Weise familiär war, schien der Brief doch ein bißchen rätselhaft. Es war darin, wie Brone gesagt hatte, die Rede vom Autarchen und von König Olins Sorge, was dessen Eroberungswut anbelangte.
    Und jetzt, Kendrick, mein Sohn, zum Kern der Besorgnis deines Vaters,
    las sie zum sechsten oder siebten Mal,
    daß nämlich an all dem, was uns im Norden an Gerede über den Autarchen und die Ausweitung seines Imperiums erreicht hat, nichts übertrieben ist. Der gesamte Kontinent Xand oberhalb der großen Weißen Wüste steht jetzt unter der Herrschaft von Xis, und während sich der Vater und Großvater des jetzigen Autarchen damit begnügten, zu erobern und Tribut zu fordern, ist er diesen unterworfenen Ländern kein milder Herrscher. Es heißt, er betrachte sich nicht nur als König, sondern auch als Gott, und all diese unterworfenen Lande müßten ihn als den Sohn der Sonne selbst verehren — ja, eben jener Sonne, die vom Himmel strahlt! Den Städten und Territorien Eions, die bisher unter seinen Einfluß gelangt sind, hat er noch keine so harten Gebote auferlegt, doch ich zweifle nicht, daß er von ihnen dasselbe fordern wird, sobald er sie entsprechend fest im Griff hat.
    Aber glaube nicht, nur weil er wahnsinnig ist, wäre er auch dumm. Dieser Autarch ist wahrhaftig aus heißem Metall geschmiedet. Er, Sulepis, war ursprünglich der drittjüngste von sechsundzwanzig Söhnen des Königshauses — eines Natternnests, berüchtigt selbst im hartgesottenen Xis, wo es noch nie an Grausamkeit, Mord und Totschlag innerhalb der herrschenden Sippen mangelte. Es heißt, daß nur einer seiner Brüder, der jüngste, noch am Leben war, als Sulepis schließlich, ein Jahr nach dem Tod des Vaters, den Thron bestieg. Nachdem dieser jüngere Bruder Sulepis bei der Krönungszeremonie die Krone aufs Haupt gesetzt hatte, wurde der arme Kerl fortgeschleift und in flüssige Bronze getaucht. Als die schmerzverrenkte Figur erstarrt war, ließ sie der Autarch vor dem Königspalast aufstellen. Ein Reisender erzählte mir, der Autarch erkläre gern entsetzten Besuchern, diese Statue stelle ›die Bedeutung der Familie‹ dar.
    Xand hat er nahezu vollständig im Griff, aber seine bisherigen Eroberungen in Eion sind nur kleine Territorien, die allenfalls über dürftige Häfen verfügen. Er weiß, daß ihm keiner davon als brauchbare Basis für eine Invasion dienen kann und daß ohne sicheren Ausgangsort seine Armee von zwangsausgehobenen Soldaten, so groß sie auch sein mag, niemals Männer besiegen kann, die für ihr Land kämpfen, schon gar nicht, wenn Syan, Jellon und die Markenlande zusammenstehen ...
    Briony legte den Brief hin, so wütend wie beim ersten Lesen. Jellon — dieser Sumpf des Verrats! Typisch ihr Vater, auch dann noch, wenn er wegen Jellons Habgier im Gefängnis schmachtete, zu glauben, er könnte dieses Schwein von König Hesper dazu bringen, das Richtige zu tun und gemeinsame Sache gegen einen stärkeren Feind zu machen.
    Und wahrscheinlich bringt er ihn tatsächlich dazu, wenn er nur genug Zeit hat,
dachte Briony.
Und was mache ich dann? Was, wenn wir wirklich gemeinsame Sache machen und sie diesen schmierigen Grafen Angelos wieder hierherschicken und ich ihn als Verbündeten behandeln muß, statt ihm, wie ich es am liebsten möchte, das Schwert ins Herz zu stoßen?
Sie gelobte sich, am Nachmittag in die Waffenkammer zu gehen und eine Zeitlang mit dem Schwert zu üben. Wenn Barrick sich immer noch zu krank zum Fechten fühlte, konnte sie ja wenigstens so tun, als wäre die mit Sägemehl ausgestopfte Übungspuppe dieser Angelos oder sein Herr Hesper. Es würde guttun, auf irgend etwas einzustechen.
    Was den

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