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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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fast so groß wie das Säckchen.
    »Du mußt es noch weiter aufschneiden«, sagte er und gab es Opalia zurück.
    Sie schnupperte an der offenen Naht. »Goldlauch und Flammendes Herz. Aber das ist nicht alles. Den Rest kann ich nicht erkennen.« Als sie den Rest der Seitennaht und auch noch ein Stückchen der Bodennaht aufgetrennt hatte, nahm Chert das Säckchen wieder.
    Er zog behutsam. Getrocknete Blütenblätter rieselten auf den Tisch. Er zog weiter, und schließlich glitt das harte Ding heraus. Es war ein Oval aus einem polierten weißen Material — er erkannte auf den ersten Blick, daß es kein Stein war, sondern etwas, das in viel jüngerer Zeit noch auf viel aggressivere Weise lebendig gewesen war — und mit dekorativen Schnitzereien versehen, die, wie auch die Stickerei, nichts Konkretes darzustellen schienen. Er konnte es nur verblüfft anstarren — warum sollte jemand so viel Mühe darauf verwenden, eine simple Elfenbein- oder Knochenscheibe so kunstvoll zu polieren und zu verzieren? —, aber dann nahm Opalia es an sich, musterte es kurz und nickte, ehe sie es ihm wieder in die Hand legte, jetzt mit der anderen Seite nach oben.
    »Das ist ein Spiegel, du alter Narr.« Sie klang erleichtert. »Ein Handspiegel, wie ihn adlige Damen haben. Ich würde mal vermuten, daß deine Prinzessin Briony etliche von den Dingern besitzt.«
    »Meine
Prinzessin Briony?« Er fiel in ihr gewohntes Muster, weil es das einfachste schien; er war ebenfalls erleichtert, wenn auch nicht ganz so wie seine Frau. »Das würde sie sicher sehr gern hören.« Er starrte den Spiegel an, hob ihn hoch, drehte ihn, bis sich das Lampenlicht darin brach. Das Ding wirkte ganz normal. »Aber warum hat der Junge einen Spiegel?«
    »Aber siehst du denn nicht?« Opalia schüttelte den Kopf ob seiner Begriffsstutzigkeit. »Der ist doch so klar wie Himmelsglas. Er hat bestimmt seiner ... seiner richtigen Mutter gehört.« Sie sprach diese Worte gar nicht gern aus, fuhr aber tapfer fort. »Sie hat ihn ihm wohl gegeben, als ... als eine Art Andenken. Vielleicht war sie ja in Gefahr, und sie hatten nur noch wenige Augenblicke, ehe sie ihn wegschicken mußte. Sie wollte, daß derjenige, der den Jungen finden würde, gleich wüßte, daß er aus einer anständigen Familie kommt und daß seine Mutter ihn geliebt hat.«
    »Trotzdem seltsam«, sagte Chert, der seine Ungläubigkeit einfach nicht ganz zu verbergen vermochte, »daß eine Frau ihren Spiegel in einem so fest verschlossenen Säckchen aufbewahrt.«
    »Das hat sie doch nicht getan! Sie hat ihn nur eingenäht, damit der Junge ihn nicht verliert.«
    »Willst du wirklich sagen, daß eine Edelfrau, der nur noch wenige Augenblicke mit ihren Sohn bleiben, vielleicht weil ihre belagerte Burg in Flammen steht wie in einer von diesen Großwüchsigenballaden, die du so gern hörst, wenn wir auf den Markt droben über der Erde gehen — daß sie sich die Zeit nimmt, ein solches Säckchen mit so feinen Stichen zuzunähen?«
    »Du machst es nur komplizierter, als es ist.« Opalia klang amüsiert, nicht ärgerlich. Sie konnte es sich leisten, großherzig zu sein, da sie ganz offensichtlich gewonnen hatte. Es war nur ein Spiegel, kein Ring mit einem Familienwappen, kein Brief, der Flints Herkunft erklärte oder das Eingeständnis irgendeines schrecklichen Verbrechens enthielt. Nur um ganz sicherzugehen, pulte Chert, während Opalia kleine tadelnde Laute von sich gab, die restlichen getrockneten Blätter und Blüten aus dem Säckchen, aber sonst war nichts mehr darin.
    »Wenn du damit fertig bist, so eine Sauerei zu machen, gib mir das ganze Zeug.« Der Triumph in ihrer Miene war jetzt unübersehbar. »Ich habe eine Menge zu tun, wenn ich das wieder in Ordnung bringen will, ehe der Junge aufwacht. Du kannst ebensogut wieder ins Bett gehen, Alter.«
    Und das tat er auch. Aber er schlief immer noch nicht. Was ihn wach hielt, waren jedoch nicht die leisen Geräusche, die Opalia bei ihrer Näharbeit machte. Aus dem Säckchen war nichts Schreckliches zum Vorschein gekommen. Es würde sich nichts ändern, jedenfalls vorerst nicht. Aber genau das war Teil des Problems.
    Ich werde es Chaven erzählen, sobald ich Gelegenheit dazu habe.
Er war müde, so müde, und mußte unbedingt schlafen. Und er wollte so gern glauben, daß Opalia recht hatte, daß es keinen Grund zur Sorge gab, aber irgend etwas nagte immer noch an ihm.
Ja, Chaven, wenn er mich empfängt. Letztes Mal schien ihm meine Gesellschaft nicht sonderlich recht.

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