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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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in der Geschichte der Markenlande, vermochte sie heute nicht zu fesseln, obwohl sie sonst manchmal stundenlang dastand, die gutaussehende, dunkelhaarige Frau betrachtete, die das Königreich in einer seiner finstersten Zeiten zusammengehalten hatte, und darüber nachdachte, wie es wohl sein mußte, so etwas Bleibendes zu vollbringen. Doch obwohl sie heute die vertrauten Gesichter ihrer übrigen männlichen und weiblichen Verwandten nicht weiter berührten, sprang ihr plötzlich das Bild von Sanasu, Kellick Eddons Gemahlin, ins Auge.
    Es war ungewöhnlich, daß Briony für dieses Bild mehr als nur einen flüchtigen Blick übrig hatte. Das wenige, was sie über Königin Sanasu wußte, war trist; die endlos lange Trauerzeit nach dem Tod des großen Königs Kellick, ein stummes, einsames Witwendasein, das sie zu einem Phantom an ihrem eigenen Hof hatte werden lassen. So zurückgezogen hatte Sanasu, laut den tradierten Geschichten, die zweite Hälfte ihres Lebens verbracht, daß ihrem Sohn schon Jahre bevor er offiziell König wurde die Regierungsgeschäfte zufielen. Allein dafür verabscheute die verantwortungsbewußte Briony diese Frau, auch wenn sie sonst nichts über sie wußte. Doch heute konnte Briony trotz der Sorgen, die ihr durch den Kopf gingen, nicht umhin, dieses Bild anzustarren. Da war etwas, das ihr noch nie aufgefallen war: Sanasu sah Barrick sehr ähnlich — oder vielmehr sah Barrick, der ja über viele Generationen von ihr abstammte, dieser Sanasu sehr ähnlich, was die schwarze Trauerkleidung, die beide bevorzugten, noch unterstrich. Und jetzt, da seine Blässe und seine großen, unruhegetriebenen Augen durch die Folgen des Fiebers immer noch hervorgehoben wurden, sah Barrick der längst verstorbenen Königin ähnlicher denn je.
    Briony stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Sie wünschte, der uralte Gang wäre besser beleuchtet. Der Maler hatte seine Königin zweifellos schmeichelhaft dargestellt, und doch hatte Sanasu auf dem Bild das fast durchscheinende Gesicht eines sehr kranken Menschen, wodurch ihr Haar schockierend rot wirkte wie eine blutende Wunde. Außerdem sah sie erstaunlich jung aus dafür, daß sie ihren Mann in den mittleren Jahren verloren hatte. Ihr Gesicht war auch noch auf andere Weise seltsam, obwohl Briony gar nicht genau sagen konnte, inwiefern.
    Ich kann auch Vaters Augen an ihr sehen und seine Farbtöne.
Briony wünschte plötzlich, sie wüßte mehr über Kellicks Witwe. Auf dem Bild wirkte Sanasu geheimnisvoll und fremdländisch. Briony konnte sich nicht erinnern, je gehört zu haben, woher die schwermütige Königin gekommen war, aber welch fernes Land sie auch immer hervorgebracht haben mochte, dieses Fremde war jetzt seit Jahrhunderten Teil des Familienerbes. Briony erkannte plötzlich mit Staunen, daß das Blut der Eddons, ihr Blut, wie ein mächtiger Strom war, in dem dieses oder jenes an die Oberfläche kam, verschwand und dann wieder auftauchte.
Und nicht nur äußere Dinge, auch Gemütseigenschaften, Gewohnheiten und treibende Gefühlskräfte,
dachte sie: Königin Sanasu war berühmt dafür, daß sie nicht mehr mit den Menschen in ihrer Umgebung gesprochen und sich in den Wolfszahnturm zurückgezogen hatte, so daß nur noch wenige Bedienstete Zugang zu ihr hatten und sie die letzten zwei, drei Jahrzehnte ihres Lebens so gut wie unsichtbar war. War es das, was die Zukunft für ihren geliebten, düsteren Barrick bereithielt?
    Dieser unheimliche Gedanke und die anhaltende Faszination des weißen, ätherischen Gesichts der Königin Sanasu nahmen Briony so gefangen, daß sie beinahe aufschrie, als plötzlich der alte Hofnarr Puzzle aus dem Schattendunkel trat.
    »Bei den Göttern, Kerl«, herrschte sie ihn an, als ihr Herz wieder ruhiger schlug, »was soll das? Ihr habt mir einen Wahnsinnsschrecken eingejagt, indem ihr Euch so angeschlichen habt.«
    »Es tut mir leid, Prinzessin, tut mir wirklich leid. Ich wollte nur ... ich habe auf Euch gewartet ...« Er schien zu überlegen, ob er auf ein alterssteifes Knie fallen sollte.
    Briony erinnerte sich an ihr Gebet um die Zoriengabe der Geduld: »Hört auf, Euch zu entschuldigen, ich werde es überleben. Was gibt es, Puzzle?«
    »Ich ... es ist nur ...« Er sah sie genauso ängstlich an wie eben Barricks Page. »Man hat mir gesagt, ich soll mein Zimmer mit jemandem teilen.«
    Sie atmete einmal tief durch.
Geduld. Freundlichkeit.
»Stört Euch das so sehr? Es war nur ein spontaner Gedanke. Sicher können

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