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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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bringen, ihre Stiefmutter zu besuchen, ehe das Kind kam. In vielerlei Hinsicht.
    Er entzog ihr seine Hand, indem er es als neuerlichen Handkuß tarnte, und verabschiedete sich dann mit einer Verbeugung. Er merkte plötzlich, daß er allein sein wollte, um nachzudenken.

    Der kleine Page war von seinem Strohsack auf dem Fußboden aufgescheucht und hinausgeschickt worden, um sich ein neues Lager im vorderen Gemach zu bereiten. Endlich waren sie allein.
    »Was quält dich so?« Briony setzte sich auf die Bettkante. »Sprich mit mir.«
    Ihr Bruder zog sich die Pelzüberdecke bis zur Brust hinauf und verkroch sich tiefer in seinem Bettzeug. Es war keine laue Nacht, jetzt, da der richtige Winter vor der Tür stand und der Tag des Waisen nur noch wenige Wochen entfernt war, aber Briony fand es nicht sonderlich kalt.
Ist es immer noch dieses Fieber?
Es war Wochen her, aber sie wußte, daß manche Fiebererkrankungen noch lange Zeit nachwirkten oder gar immer wieder aufflammten.
    »Warum hast du gesagt, dieser Popanz von einem Dichter kann hier im Haus bleiben?«
    »Er hat mich amüsiert.« Mußte sie das denn mit jedem erörtern? »Um ehrlich zu sein, ich dachte, er könnte dich vielleicht auch amüsieren. Er hat mir einzureden versucht, er schreibe ein langes Gedicht über mich — einen ›Panegyrikus‹, was immer das ist. Worin er mich mit Zoria selbst vergleicht. Die Götter allein mögen wissen, womit er
dich
vergleichen wird. Mit Perin vermutlich ... nein, mit Erivor in seinem Seepferdchenwagen.« Sie versuchte zu lächeln. »Schließlich ist Puzzle nicht mehr der Amüsanteste — ich glaube, allmählich tut er mir leid. Ich dachte, es würde uns beiden guttun, jemand Neuen zu haben, über den wir uns lustig machen können. Ach, da fällt mir ein, Puzzle ist zu mir gekommen, heute nachmittag, als ich auf dem Rückweg von deinem Zimmer war. Er hat mir erzählt, an dem Abend, als Kendrick ermordet wurde, habe er Gailon in der Eingangshalle gesehen.«
    Barrick runzelte die Stirn. Er wirkte nicht einfach nur müde, sondern fast schon ein wenig benommen. »Kendrick hat Gailon gesehen ...?«
    »Nein,
Puzzle
hat Gailon gesehen.« Sie gab rasch wieder, was ihr der alte Hofnarr erzählt hatte.
    »Er hat gehört, daß Gailon verschwunden ist«, sagte Barrick verächtlich. »Das ist alles. Er will derjenige sein, der uns auf die Spur gebracht hat, falls sich herausstellt, daß Gailon ein Verräter ist.«
    »Ich weiß nicht. Puzzle hat sich nie für irgendwelche politischen Schachzüge interessiert.«
    »Weil Vater hier war, um ihn zu protegieren.« Barricks Miene wurde plötzlich verhalten und unbeteiligt. »Gefällt er dir?«
    »Wer?«
    »Der Dichter. Er sieht gut aus. Er weiß zu reden.«
    »Sieht gut aus? Vielleicht, auf stutzerhafte Art. Sein Bart ist einfach absurd. Aber das ist bestimmt nicht der Grund, weshalb ich gesagt habe, er könne ...« Ihr ging auf, daß sie sich wieder hatte ablenken lassen. »Barrick, ich möchte keine Atemluft mehr auf diesen närrischen Tropf verschwenden. Wenn er dir so ein Dorn im Auge ist, gib ihm ein bißchen Geld und schick ihn weg, mir ist das egal. Ich bin überzeugt, daß er nichts mit der eigentlichen Sache zu tun hat. Der Sache, über die wir jetzt reden werden.«
    »Ich will nicht.« Er sagte es mit der düsteren Gequältheit, die er zur Kunst erhoben hatte. Briony fragte sich, ob es anderen Geschwistern auch manchmal so ging, daß sie sich gleichzeitig liebten und haßten. Oder gab es das nur bei Zwillingen, die sich so nah waren, daß sie oft das Gefühl hatte, warten zu müssen, bis Barrick einatmete, um selbst Luft in die Lunge zu bekommen.
    »Du
wirst
reden. Du hättest diesen Schankknecht beinah umgebracht. Warum, Barrick?« Als er nicht antwortete, beugte sie sich übers Bett und packte ihn am Arm. »Zoria bewahre uns, ich bin's!
Ich!
Briony! Kendrick ist tot, Vater ist weg — wir haben doch nur uns!«
    Er guckte unter halbgesenkten Wimpern hervor wie ein ängstliches Kind. »Du willst es doch gar nicht wirklich wissen. Du willst doch nur, daß ich mich anständig benehme. Du bist doch nur sauer darüber, daß ich dich vor Brone in Verlegenheit gebracht habe und vor ... vor diesem Dichterling.«
    Sie schnaubte ärgerlich. »Das stimmt nicht. Du bist mein Bruder. Du bist ... so etwas wie meine andere Hälfte.« Sie suchte seinen Blick und hielt ihn fest, aber das war, als versuchte man, ein verschrecktes Tier am Flüchten zu hindern. »Schau mich an, Barrick. Du weißt, daß es

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