Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Dienerinnen und die beiden Jungfern gaben sich alle Mühe, nicht säuerlich zu gucken, doch sie waren schlechte Schauspielerinnen. Vor allem Rose und Moina schienen die knabenhafte Kleidung ihrer Herrin als persönlichen Affront zu nehmen, aber heute morgen interessierten Briony die Sensibilitäten ihrer Jungfern wenig. Sie war es leid, sich für andere Leute herauszuputzen, hatte es satt, sich auf diesen künstlichen Liebreiz trimmen zu lassen, der anderen nur das Recht zu geben schien, das, was sie sagte, zu ignorieren. Wobei es natürlich niemand wagte, die Prinzregentin gänzlich zu ignorieren, aber sie wußte, wenn die Höflinge unter sich waren, wünschten sie sich Olin zurück und das nicht nur, weil er der wahre König war. Sie merkte es an ihren Blicken: Sie trauten ihr nicht, weil sie eine Frau war — schlimmer noch, nur ein Mädchen. Es machte sie rasend.
    Ist denn irgend jemand unter ihnen, ob Männlein oder Weiblein, der nicht aus einer Frau hervorgegangen ist? Die Götter haben unser Geschlecht mit der größten aller Gaben betraut, mit derjenigen, die für das Überleben der Menschheit am wichtigsten ist, aber nur weil wir nicht im hohen Bogen an eine Mauer pinkeln können, verdienen wir keine anderen verantwortlichen Aufgaben?
    »Es ist mir egal, ob du ärgerlich auf mich bist«, fauchte sie Rose an, »aber ziepe mich nicht so.«
    Rose ließ die Bürste fallen und trat einen Schritt zurück, aufrichtige Betroffenheit im Gesicht. »Aber, Herrin, ich wollte nicht ...«
    »Ich weiß. Verzeih mir, Rosie. Ich bin heute morgen schlecht gelaunt.«
    Während ihr die Mädchen das Haar flochten, nahm Briony etwas Obst und gesüßten Wein zu sich, weil Chaven gesagt hatte, das sei gut für die Verdauung. Als es den Jungfern gelungen war, die Zöpfe auf ihrem Kopf zu einem festen, aber raffinierten Gebilde zu winden, ertrug sie es, daß sie ihr die Haube feststeckten, obwohl sie jetzt schon Angst hatte, sich zu bewegen.
    Unter all dem lag, wie der schwarze Sog der Unterströmung, die sich manchmal unter der täuschend friedlichen Oberfläche der Brennsbucht bildete, der Horror dessen, was ihr Barrick erzählt hatte. Sie hatte natürlich Angst um ihren Bruder, und sie hatte Sehnsucht nach ihm: Er hatte sich seither in seinen Gemächern verschanzt, angeblich, weil das Fieber wieder aufgeflammt war, doch sie wußte genau, daß er sich in Wirklichkeit schämte, ihr gegenüberzutreten. Als ob sie ihn je weniger lieben könnte! Dennoch, es war ein Schatten auf ihrem Verhältnis, der all ihre sonstigen Differenzen bedeutungslos erscheinen ließ.
    Aber noch schlimmer in gewisser Weise war das, was er über ihren Vater gesagt hatte. Briony hatte nie zu jenen törichten kleinen Mädchen gehört, für die ihr Vater nichts falsch machen konnte — sie hatte Olins scharfe Zunge oft genug zu spüren bekommen, um sich nicht übermäßig verhätschelt zu fühlen, und er war immer schon zeitweise finster und verschlossen gewesen —, aber Barricks Geschichte war einfach schockierend. Die Vorstellung, daß ihr Vater ihre ganze Kindheit hindurch diese Bürde mit sich herumgeschleppt und nichts davon gesagt hatte ... Sie wußte nicht, was stärker war, das Mitleid oder die Wut, weil er es vor den Menschen verborgen hatte, die ihn liebten.
    Jedenfalls fühlte es sich an, als ob jemand ein Loch in die Wand eines vertrauten Zimmers gebrochen hatte und es sich nicht als Verbindung zu dem ebenso vertrauten Raum erwies, den man dort gewähnt hatte, sondern als Portal zu etwas Unvorstellbarem.
    Wie kann das sein? Wie ist das alles möglich? Warum hat mir niemand etwas gesagt? Warum hat Vater mir nichts gesagt? Ist er wie Barrick — glaubt er, ich würde ihn hassen?
    Briony war immer ein bodenständiges Kind gewesen, verglichen mit ihrem Zwillingsbruder jedenfalls — keine düsteren Grübeleien, keine jähen Stimmungsumschwünge —, aber das jetzt ging weit über alles hinaus, was sie je erlebt hatte. In gewisser Weise war es sogar schlimmer als Kendricks Tod, weil es alles über den Haufen warf, was sie zu kennen und zu wissen geglaubt hatte.
    Sie trauerte wieder, diesmal nicht um einen Menschen, sondern um ihren Gemütsfrieden.
     
    Ich bin müde. Ich bin so müde.
Es war erst zehn Uhr morgens. Sie konnte nichts dagegen machen: Sie war wütend auf Barrick. Und wenn er noch so schrecklich litt: Er konnte doch nicht einfach sämtliche Regentschaftspflichten ihr überlassen.
    Der Thronsaal war gedrängt voll mit Leuten, die alle Anspruch

Weitere Kostenlose Bücher