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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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auf ihre Zeit erhoben, und in vielen Fällen war dieser Anspruch unabweisbar. Im Moment verbreiteten sich gerade Großkämmerer Gallibert Perkin und drei Edelleute seiner Kammer quälend ausführlich darüber, daß entweder mehr Geld für die Regierungsaufgaben eingetrieben oder aber ein Teil des bereits gesammelten Lösegelds für König Olin auf laufende Ausgaben verwendet werden müsse. Die Kaufleute sahen dem kommenden Jahr mit Sorge entgegen, die Bankiers waren zurückhaltend mit Krediten, und die Krone hatte schon mehr Anleihen aufgenommen, als gut war, weshalb es eine verlockende Alternative schien, das Lösegeld anzutasten. Es war letztlich ein unlösbares Problem, und doch mußte eine Lösung gefunden werden — das Lösegeld auszugeben hieße, nicht nur ihren Vater zu verraten, sondern auch diejenigen, die — nicht immer freudig — Geld für seine Befreiung gegeben hatten. Aber der Haushalt von Südmark verschlang Geld wie ein goldfressendes Monster aus einem Volksmärchen. Briony war gar nicht klar gewesen, wieviel Arbeit es bedeutete, einfach nur einen Haushalt ordentlich zu führen — zumal wenn dieser Haushalt der größte von ganz Nordeion und der Lebensmittelpunkt von über fünfzigtausend Menschen war —, geschweige denn, ein ganzes Land ordentlich zu verwalten. Die Krone würde sich irgendeine andere Möglichkeit einfallen lassen müssen, zu Geld zu kommen. Schatzkanzler Perkin schlug wie immer vor, mehr Abgaben von jenen zu fordern, die bereits reichlich für das Lösegeld gegeben hatten.
    Und die Parade der Anliegen ging immer weiter. Zwei Trigonatspriester sprachen für Hierarch Sisels Trigonatsgericht, das der Meinung war, eine bestimmte Rechtssache falle in seine Zuständigkeit und nicht in die des Stadtgerichts. Auch hier ging es um Geld, da es sich um ein schwerwiegendes Verbrechen handelte — ein Grundbesitzer wurde beschuldigt, fahrlässig den Tod eines Grundsassen verursacht zu haben — und dem Gericht, das den Richter stellte, auch eventuelle Strafabgaben oder Bußgelder zufallen würden. Briony hatte gehofft, als Prinzregentin würde sie die Möglichkeit haben, Probleme auszuräumen, die Schuldigen zu bestrafen und die Unschuldigen zu belohnen. Statt dessen mußte sie feststellen, daß sie die meiste Zeit damit beschäftigt war zu entscheiden, vor wem die jeweiligen Fälle verhandelt würden, vor dem Stadtgericht, vor dem Gericht des Hierarchen oder — was nur ganz selten vorkam, meist dann, wenn der Beschuldigte dem hohen Adel angehörte — vor der Krone von Südmark.
    Die Mittagszeit kam und ging. Die Prozession von Menschen und Problemen schleppte sich immer weiter dahin, als handelte es sich um eine offizielle Feier der Langeweile und Kleinlichkeit. Briony wünschte, sie könnte eine Pause machen und sich ausruhen, aber die Schlange der Bittsteller schien sich bis ans Ende der Welt zu erstrecken, und was heute unerledigt blieb, mußte morgen erledigt werden, wenn ihr Unterricht bei Schwester Utta anstand. Sie hatte gelernt, das bißchen private Zeit, das ihr blieb, unerbittlich zu verteidigen, also befahl sie, ihr etwas Brot und kaltes Fleisch zu bringen, und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, um ihr schmerzendes Gesäß zu entlasten. Es war seltsam, aber auch zwei oder drei Kissen vermochten einen ganzen Tag auf einem Stuhl nicht erträglich zu machen.
    Jetzt war es Vogt Nynor, der sich zu ihr beugte, zerstreut seinen Bart um den Zeigefinger wickelte und wartete, daß sie sich wieder auf ihn konzentrierte.
    »Tut mir leid«, sagte sie. »Was habt Ihr gesagt? Irgend etwas über Chaven?«
    »Er hat mir einen ziemlich seltsamen Brief geschickt«, erklärte der alte Mann. Für Briony war es eine erschreckende, aber auch faszinierende Erkenntnis gewesen, daß die Beaufsichtigung dieser abstrusen Parade von Forderungen und Beschwerden die Art Tätigkeit war, mit der Nynor jeden einzelnen Tag seiner langen Karriere zugebracht hatte — oder zumindest jeden einzelnen Tag jener Jahrzehnte, seit er einer der wichtigsten Hofbeamten ihres Großvaters Ustin geworden war. Er wirkte nicht verrückt, aber wer würde sich freiwillig ein solches Leben aussuchen? »Der Hofarzt mußte unerwartet eine Reise antreten«, sagte Nynor. »Er empfiehlt, für die Zeit seiner Abwesenheit, die einige Tage, aber vielleicht auch länger dauern könne, Okros von Ostmark hierher in die Festung zu rufen.«
    »Er ist doch öfters unterwegs, um sich mit anderen gelehrten Männern zu beraten«, sagte Briony.

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