Die Grenze
schon erwähnt? Weil es so nah an der ...« Er ließ den Satz unvollendet, weil ihm wieder einfiel, wo der Junge herkam. »Aber du kannst auch ›Der Leuchtturm der Marken‹ sagen, wenn du's gern poetisch hast.«
Der Junge schüttelte den Kopf — ob aus Abneigung gegen Poesie oder aus irgendeinem anderen Grund, war nicht klar. »Groß.«
»Beeilt euch, ihr zwei.« Opalia war schon vorneweg marschiert.
»Sie hat recht — wir haben noch einen weiten Weg.«
Der Junge hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Chert berührte ihn am Arm. Das Kind wirkte seltsam zögernd, als wären die fernen Türme als solche schon etwas Bedrohliches, aber schließlich ließ es sich doch zum Weitergehen bewegen. »Du brauchst keine Angst zu haben, Junge«, erklärte Chert. »Nicht, solange du bei uns bist. Aber verlier uns nicht.«
Der Junge schüttelte wieder den Kopf.
Als sie aus dem hügeligen Ackerland nach Südmarkstadt hineinkamen, war die breite Marktstraße dicht von Neugierigen gesäumt, fast nur Großwüchsigen. Im ersten Moment fragte sich Chert, warum so viele Leute aus ihren Häusern und Werkstätten gekommen waren, nur um zwei Funderlinge und einen zerlumpten, weißschopfigen Jungen anzustarren, aber dann ging ihm auf, daß die königliche Jagdgesellschaft eben hier durchgekommen sein mußte. Die Menge verlief sich bereits, und die Straßenhändler kämpften um die wenigen noch verbliebenen Kunden, indem sie die Preise für ihre Kastanien oder ihr gebratenes Brot immer weiter herabsetzten. Er hörte Geraune über die enorme Größe irgendeines erlegten Wilds, das die Jäger im Triumphzug vorbeigeführt hatten. Und noch weitere Schilderungen — Schuppen? Zähne? die wenig Sinn ergaben, außer, die Jagd hätte etwas anderem als Rotwild gegolten. Die Leute wirkten gedämpft, ja, unglücklich. Chert hoffte nur, daß die Prinzessin und ihr mürrischer Bruder wohlauf waren — er fand, sie hatte freundliche Augen gehabt. Aber wenn ihnen etwas passiert wäre, sagte er sich, würden die Leute doch drüber reden.
Sie brauchten fast den ganzen Rest des Nachmittags, um durch die Stadt bis ans Wasser zu gelangen, aber als sie das Festlandsende der Dammstraße erreichten, blieb ihnen doch noch etwas Zeit, ehe die Flut den Midlanfels wieder gänzlich zur Insel machen würde.
Die Dammstraße zwischen dem Strand und der Felsfestung war kaum mehr als ein breites Band von aufgehäuften Steinen, das bei Flut größtenteils überspült wurde, aber dort, wo sie in dem Hafen vor dem Festungstor endete, hatten sich Generationen von Fischern und Hökern ihre Pfahlbuden zusammengezimmert, so daß da jetzt auf dem Wasser fast schon eine Stadt für sich war, eine Art ständiger Jahrmarktsplatz am windgepeitschten Eingang zum befestigten Midlanfels. Der Funderling, seine Frau und ihr neuer Gast trotten über die Stege und Bretterplattformen voller windschiefer Hütten, deren Böden nur wenige Ellen über dem Flutpegel lagen. Immer wieder mußten sie Karren und schwerbeladenen Hökern ausweichen, die schnell noch über die Dammstraße zurückwollten, ehe es dunkel wurde. Durch einen Spalt zwischen zwei wackligen Buden spähte Chert aufs Meer hinaus. Trotz der letzten strahlenden Abendsonne waren dort dicke, dunkle Wolken am Horizont, und plötzlich fiel Chert die schockierende Entdeckung wieder ein, die das Auftauchen der Reiter und des geheimnisvollen Jungen völlig aus seinem Kopf verdrängt hatte.
Die Schattengrenze? Jemand muß erfahren, daß sie sich verschoben hat!
Er hätte sich gern eingeredet, daß die königliche Familie dort oben auf der Burg längst Bescheid wußte, daß sie die Tatsachen sorgsam erwogen hatte und zu dem Schluß gekommen war, es habe nichts zu bedeuten und alles sei in bester Ordnung, aber es ging nicht.
Jemand muß es erfahren.
Die Vorstellung, dort hinaufzugehen, war beängstigend, obwohl er schon etliche Male als Mitglied eines Funderling-Arbeitstrupps innerhalb des Zwingers gewesen war und sogar selbst schon solche Trupps geführt und direkt für den Vogt Nynor gearbeitet hatte — oder jedenfalls für dessen Aufseher. Aber einfach so hinzugehen, als wäre er ein wichtiger Mann ...
Aber wenn die Großwüchsigen es nicht wissen, muß es ihnen doch jemand sagen. Und vielleicht springt ja sogar eine Belohnung dabei heraus — genug, um Opalia diesen neuen Schal kaufen zu können, wenn schon sonst nichts. Oder um wenigstens das zu bezahlen, was dieser junge Vielfraß essen wird, wenn Opalia ihn erst mal ins Haus
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