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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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hätte der Junge so tief in die Erde hinabsteigen sollen, an einen Ort, den er, wie er ganz deutlich gezeigt hatte, gar nicht mochte. Die Familiengruft der Eddons lag zwei Ebenen höher, was aber letztlich nur wenige Funderlingslängen ausmachte.
    »Meine Nase spricht immer wahr«, erklärte Giebelgaup. »Der Ruch ist stärker hier denn jeden anderen Ortes jenseits Eurer heimischen Geniste.«
    Chert brauchte eine Weile, um zu verstehen, daß der kleine Mann meinte, er habe Flints Geruch nirgends so stark wahrgenommen, seit sie Cherts unmittelbare Nachbarschaft an der Keilstraße verlassen hatten. »Oh, na ja, dann führt mich weiter.« Er ging die Stufen hinunter, die sich im Zickzack über den hellen Hang zogen und schließlich in die erste Vorkammer der Höhlen führten.
    »Jetzt linkens«, verkündete Giebelgaup. »Nein, lenks, meine ich.«
    »Links.«
    »Ah, ja, das war's.«
    Durch einen niedrigen Torbogen traten sie aus der Vorkammer in die erste jener Höhlen, die Chert von klein auf als »die Festhallen« kannte — ein riesiges Gefüge miteinander verbundener Kavernen, allesamt voller Säulen und Fließsteinbaldachine, die sich ursprünglich als natürliche Formationen gebildet hatten, dann aber über Jahrhunderte bearbeitet und ausgeschmückt worden waren, so daß jetzt nahezu jedes Element kunstvoll gestaltet war. Nur ein größerer Grottenkomplex war im ursprünglichen Zustand belassen worden. Sein Name war eine grollende Konsonantenanhäufung, die aus der alten Funderlingssprache stammte und ungefähr
Der Erdformengarten des Herrn des Heißen, Nassen Steins
bedeutete. Die Ausschmückung der übrigen Festhallen stand der Gestaltung des prächtigen Deckengewölbes der Funderlingsstadt nicht nach, doch während das berühmte Felsdach eine Naturwildnis aus Ästen, Blättern, Früchten, Vögeln und kleinen baumbewohnenden Tieren darstellte — eine Umgebung, wie sie das Funderlingsvolk seit unvordenklichen Zeiten nicht bewohnt hatte —, war die Verzierung der Festhallen ganz anders: eine Ansammlung rätselhafter, sich endlos wiederholender Formen, die man nicht lange angucken konnte, ohne daß einem alles vor den Augen verschwamm. Diese Dekorationen waren so alt, daß niemand mehr wußte, ob sie von Funderlingen angebracht worden waren, und wenn ja, warum, und man konnte in diesen seltsamen Formen so ziemlich alles sehen — Tiere, Dämonen, Bildnisse der Götter selbst.
    »Dieser Ort ist mir ein Rätsel«, sagte Giebelgaup so leise und nervös, daß Chert ihn trotz der tiefen Stille der Höhlen kaum verstehen konnte.
    »Wir nähern uns den heiligen Stätten des Funderlingsvolks«, sagte Chert. »Kaum ein Fremder kriegt sie je zu sehen. Das ist ein Grund, weshalb ich Euch am Salzsee vor den anderen verstecken wollte. Es hätte womöglich Stunk gegeben, wenn sie herausgekriegt hätten, wo wir hinwollen.«
    »Ah, ja.« Giebelgaup klang etwas angespannt. »Es ist wohl gegen das Gesetz? Verboten? So wie mit unsrem Großen Giebel und auch dem Heilgen Täfelholz? Wiewohl bei letztrem nur die Ratten die nötge Kleinheit haben, zu folgen uns an jenen Ort.«
    Chert mußte lächeln. »Ja, das ist natürlich günstig. Hm, ich vermute, die meisten Großwüchsigen hätten mit den engeren Stellen hier unten auch Schwierigkeiten. Aber Ihr nicht.« Er setzte sich wieder in Marsch. »Und es ist nicht direkt verboten, Euch dorthin mitzunehmen, es ist einfach nur sehr unüblich.«
    »Verlaßt mich bloß nicht«, sagte Giebelgaup flehend, und Chert begriff plötzlich, daß der Unterton in der Stimme des Dachlings nackte Angst war. Zum erstenmal überlegte er, wie es sich wohl für seinen winzigen Gefährten anfühlen mußte, so tief unter der Erde zu sein, so weit weg von der Weite der Dächer und des Himmels. »Nicht einmal Giebelgaup, der tapfre Bogenschütz, vermag an einem solchen Ort alleine lang zu überleben«, sagte der kleine Wicht, »nicht, wo die Luft so stickig ist und selbst der eigne Atem unnatürlich laut.«
    »Keine Bange, ich laß Euch nicht allein.«
    Sie gingen durch die Festhallen, immer weiter abwärts bis zu jener Höhle, die »der Vorhangfall« hieß und einen Nebeneingang zu dem großen, wabenartigen Höhlenkomplex darstellte, der unter dem Namen »der Tempel« bekannt war. Auf den ersten Blick allerdings wirkte das Ganze überhaupt nicht wie ein Eingang: Am Ende der kleinen Höhle fiel ein breiter Wasserfall von einem vorstehenden Felssims in ein Bassin. Er glänzte schwärzlich im Licht der einzigen

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