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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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älterer Bruder wirkte zerstreut, aber sein Ton besagte klipp und klar, daß er sich jede weitere Diskussion verbat. Barrick spürte, wie schwer Briony das Schweigen fiel.
    »Was ist denn da los?« fragte Gailon Tolly plötzlich und sah zum anderen Ende des Thronsaals, wo eine gewisse Unruhe unter den Höflingen entstanden war.
    »Schau«, flüsterte Briony ihrem Zwillingsbruder zu. »Das ist Anissas Zofe.«
    Sie war es tatsächlich, und auch andere im Saal begannen zu wispern. Jetzt, da die Stiefmutter der Zwillinge so kurz vor der Niederkunft stand, verließ sie kaum je ihre Gemächer im Frühlingsturm. Die Zofe Selia war Königin Anissas Verbindung zum Rest der Burg, ihre Augen und Ohren. Und was für Augen: Selbst Barrick mußte zugeben, daß sie wirklich beeindruckend waren.
    »Guck, wie sie daherschlingert.« Briony bemühte sich nicht, ihren Abscheu zu verbergen. »Sie geht, als ob sie einen Ausschlag am Hinterteil hat und sich irgendwo schubbern möchte.«
    »Bitte,
Briony«, sagte der Prinzregent, aber obwohl der Herzog von Gronefeld ob ihrer rohen Bemerkung schockiert schien, war Kendrick höchst belustigt. Er war jetzt aus der Lektüre des Briefs herausgerissen und betrachtete das nahende Mädchen so gebannt wie alle anderen.
    Selia war noch jung, aber wohlgerundet. Sie trug das schwarze Haar nach Art der Frauen aus Devonis, ihrem und ihrer Herrin Heimatland, zu einem hohen Zopfgebilde geschlungen und hielt die langbewimperten Augen stets züchtig niedergeschlagen, hatte aber dennoch wenig von einem schüchternen Bauernmädchen. Ihr Gang weckte in Barrick ein quälendes Verlangen, aber als das Mädchen aufblickte, schien es nur seinen Bruder, den Prinzregenten, zu sehen.
    Natürlich,
dachte Barrick.
Warum sollte sie anders sein als die übrigen ... ?
    »Wenn es Euch beliebt, Hoheit.« Sie war erst seit kurzem in den Markenlanden, und ihre Sprache war immer noch stark devonisisch gefärbt. »Meine Herrin, Eure Stiefmutter, schickt Euch ihre besten Grüße und bittet um die Erlaubnis, den königlichen Leibarzt sprechen zu dürfen.«
    »Ist sie wieder unwohl?« Kendrick war wirklich ein guter Mensch: Obwohl sie alle drei die zweite Frau ihres Vaters nicht sonderlich mochten, hielt doch selbst Barrick die Besorgtheit seines Bruders für echt.
    »Ein wenig unpäßlich, ja, Hoheit.«
    »Natürlich werden wir den Arzt sofort zu unserer Stiefmutter schicken. Wollt Ihr ihm die Botschaft selbst überbringen?«
    Selia errötete aufs reizendste. »Ich kenne mich hier noch nicht sehr gut aus.«
    Briony gab ein ärgerliches Knurren von sich, aber Barrick erklärte: »Ich bringe sie hin, Kendrick.«
    »Oh, das ist zu viel Mühe für das arme Mädchen«, sagte Briony laut, »der ganze weite Weg bis zu Chavens Gemächern. Schick sie zurück, damit sie unserer leidenden Stiefmutter beisteht. Barrick und ich können das übernehmen.«
    Er sah seine Zwillingsschwester wütend an und bereute für einen Moment, daß er sie zu den Leuten gezählt hatte, die er nicht verachtete. »Ich kann es allein erledigen.«
    »Geht, ihr beiden, und streitet euch woanders.« Kendrick wedelte sie weg. »Laßt mich diese Briefe lesen. Sagt Chaven, er soll sofort nach unserer Stiefmutter sehen. Ihr seid beide bis zum Mittag entlassen.«
    Hört euch den an,
dachte Barrick.
Er hält sich wirklich für den König.
    Nicht einmal die Begleitung der hübschen Selia vermochte Barricks Stimmung zu heben, aber er achtete dennoch darauf, daß sein verkrüppelter Arm in den Falten des Umhangs verborgen und auf der ihr abgewandten Seite war, während sie den Thronsaal verließen und ins Licht eines grauen Herbstvormittags hinaustraten. Als sie die Stufen in die schattigen Tiefen des Tempelplatzes hinabstiegen, beeilten sich vier Palastwachen, die gerade beim Rest ihres Morgenmahls waren, ihnen, noch immer kauend, zu folgen. Barrick fing für einen Moment den Blick des Mädchens auf, und es lächelte ihn schüchtern an. Er hätte sich beinah umgedreht, um sich zu vergewissern, daß sie nicht jemanden hinter ihm meinte.
    »Danke, Prinz Barrick. Ihr seid sehr freundlich.«
    »Ja«, antwortete seine Zwillingsschwester. »Das ist er.«
    »Und Ihr natürlich auch, Prinzessin Briony.« Das Mädchen lächelte jetzt etwas bemühter, aber wenn Brionys barscher Unterton sie erschreckt hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. »Ihr seid überaus gütig, alle beide.«
    Als sie das Rabentor passiert und den Gruß der dortigen Wachen erwidert hatten, blieb Selia stehen.

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