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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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wie es sein sollte. So, wie es einmal war ...
    Er schob den verrückten Gedanken weg — wo sollten denn dann die ganzen Großwüchsigen hin?
    Chert und Opalia führten den Jungen den schmalen, abfallenden Steinhauerweg entlang und durch einen Torbogen im Fuß der Neuen Mauer — aus dem Gassengewirr unter dem Abendhimmel hinab in die steinernen Tiefen der Funderlingsstadt.
    Diesmal wunderte es Chert nicht, daß der Junge ehrfürchtig stehenblieb: Selbst jene Großwüchsigen, die dem kleinen Volk nicht viel Vertrauen oder Sympathie entgegenbrachten, mußten doch zugeben, daß die mächtige Steindecke über der Funderlingsstadt ein verblüffendes Meisterwerk war, Sie überspannte den Marktplatz der kleinen Leute in hundert Ellen Höhe, wölbte sich über all die labyrinthischen, lampenerhellten Straßen hinweg und stellte einen Urwald dar, der bis ins kleinste Detail aus dem dunklen gewachsenen Fels herausgemeißelt war. Am Rand der Funderlingsstadt, wo die Erdoberfläche am nächsten war, gab es zwischen den Ästen sogar Durchbrüche, durch die man echten Himmel oder, wenn es wie jetzt gerade dunkel wurde, die ersten funkelnden Sterne sah. Jeder Zweig, jedes Blatt war sorgsam gestaltet, die gesamte Decke das mühevolle Werk von Jahrhunderten und eins der Wunder der nördlichen Welt. Vögel mit Gefieder aus Perlmutt und Kristall wirkten, als könnten sie jeden Moment loszwitschern. Ranken aus grünem Malachit wanden sich die Säulenstämme hinauf, und an manchen der tieferen Äste hingen sogar edelsteinglänzende Früchte an Stielen aus unglaublich dünnem Felsgestein.
    Der Junge flüsterte etwas, was Chert nicht gänzlich verstand. »Wunderbar, ja«, sagte der kleine Mann. »Aber du kannst morgen gucken, soviel du magst. Jetzt müssen wir zusehen, daß wir Opalia einholen, sonst wird sie dich lehren, daß eine Zunge schärfer sein kann als jeder Meißel.«
    Sie folgten Opalia durch schmale, aber hübsche Straßen, wo die Häuser allesamt in den Fels geschlagen waren und die schlichten Fassaden nichts von den prächtigen Innenräumen verrieten, die das liebevolle Werk von Generationen waren. An jeder Ecke oder Kreuzung glommen an den Wänden Öllampen in Ballons aus Stein, so dünn wie Blasen an überstrapazierten Händen. Die Lampen waren nicht hell, aber es waren so viele, daß die Straßen der Funderlingsstadt die ganze Nacht wirkten, als begänne es gerade zu tagen.
    Obwohl Chert durchaus ein Mann von einigem Einfluß war, konnte man das Haus am Ende der Keilstraße nur bescheiden nennen — vier Zimmer im ganzen und nur flache Ornamente an den Wänden. Einen Moment lang dachte Chert beschämt an den Familiensitz der Blauquarz und den prächtigen großen Saal mit den tief eingeschnittenen Szenen aus der Geschichte der Funderlinge. Obwohl sie manchmal sehr spitzzüngig sein konnte, hatte Opalia ihm noch nie vorgeworfen, daß sie mit ihm in einer so bescheidenen Behausung lebte, während ihre Schwägerinnen wie Königinnen in einem luxuriösen Haus residierten. Er wünschte, er könnte ihr geben, was sie verdiente, aber dort wohnen bleiben, in unterwürfiger Abhängigkeit von seinem Bruder Knoll — oder »Magister Blauquarz«, wie er sich selbst titulierte das hätte Chert so wenig gekonnt, wie bis zum Mond springen. Und da sein Bruder drei kräftige Söhne hatte, war auch nicht mehr daran zu denken, daß Chert das Haus erben könnte, sollte sein Bruder vor ihm sterben.
    »Ich bin hier ganz zufrieden, du alter Narr«, sagte Opalia, als sie durch die Tür traten. Sie hatte ihn das Haus anstarren sehen und seine Gedanken erraten. »Jedenfalls werd ich's sein, wenn du dein Werkzeug vom Tisch räumst, damit wir essen können wie anständige Leute.«
    »Komm, Junge, hilf mir«, forderte er den jungen Fremdling auf und schlug dabei einen lauten, jovialen Ton an, um die jähe Aufwallung von Liebe zu seiner Frau zu überspielen. »Opalia ist wie ein Felsrutsch — wenn man das erste leise Grollen überhört, wird man's bereuen.«
    Er beobachtete, wie der Junge den schartigen Tisch mit einem feuchten Tuch wischte und dabei den Staub eher verteilte als aufnahm. »Ist dir immer noch nicht eingefallen, wie du heißt?« fragte er.
    Der Junge schüttelte den Kopf.
    »Na ja, irgendwie müssen wir dich ja nennen — Kiesel?« Er rief Opalia, die in einem Suppentopf über dem Feuer rührte, zu: »Sollen wir ihn Kiesel nennen?« Das war ein gebräuchlicher Name für vierte oder fünfte Söhne, bei denen dynastische Rücksichten

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