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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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angezogen.
    »Dein Herr ... will den Spiegel?« Ohne groß nachzudenken, fuhr Chert mit der Hand in die Tasche seines zerrissenen, schweißfiecklgen Hemds und schloß sie um den glatten, kühlen Gegenstand. Zu spät ging ihm auf, daß er sich damit verraten hatte, aber das Mädchen sah ihn gar nicht an. Es stand einfach nur da, die Hand noch immer ausgestreckt, und starrte vor sich hin, als könnte es geradewegs durch die Wände hindurchgucken.
    »Er sagt, mit jedem Augenblick, der verstreicht, kommt die Alte Nacht näher.«
    Chert erschrak, als er Chavens Worte, Chavens finstere Warnung, aus dem Mund dieses verrückten Mädchens hörte. Er seufzte unschlüssig.
    »Ich muß es meiner Frau sagen«, erklärte er schließlich.
     
    Auf den Straßen der Funderlingsstadt war nicht mehr viel Betrieb, jetzt, da nur noch die Nachtbeleuchtung glomm, aber die wenigen Leute, die unterwegs waren, schauten Chert verblüfft nach. Die meisten hatten schon von der bizarren kleinen Prozession gehört, die seine Rückkehr aus der Tiefe begleitet hatte, aber auf diesen Anblick waren sie doch nicht vorbereitet: Chert Blauquarz, der eben erst eine Reihe wilder Abenteuer hinter sich gebracht hatte, stapfte im Schlepptau eines Großwüchsigenmädchens zur Stadt hinaus, mit einer Miene, als würde er zu seiner eigenen Hinrichtung geführt. Und tatsächlich waren seine Gedanken ähnlich düster.
    Opalia hat nicht mal getobt,
dachte er, während er dem Mädchen zum Stadttor folgte.
Ich hätte es ja noch ertragen, wenn sie mich angeschrien und beschimpft hätte. Ich kann ja selbst kaum glauben, daß ich schon wieder weggehe. Aber mit ansehen zu müssen, wie sie mir einfach nur den Rücken kehrt, mit einem knappen »Tu, was du tun mußt.« Ist es das Kind? Hat sie etwas gefunden, was ihr wichtiger ist als ich?
    Aber vielleicht ist sie ja einfach nur wie du,
wandte ein Teil von ihm ein.
Vielleicht hat sie ja genug damit zu tun, daß der Junge so reglos und totenbleich daliegt, und kann sich nicht noch um etwas kümmern, was sie nicht versteht. Was nicht einmal du selbst verstehst.
    Aus der Zunfthalle drang Gesang — Männer- und Knabenstimmen. Der Männerchor probte für das Jahresende, die zeitlosen Lieder des Funderlingsvolkes, die sie alle miteinander teilten wie ein Mahl. Schiefer, der Chorleiter, ging jetzt lauschend und stirnrunzelnd vor den Sängern auf und ab, gab geistesabwesend mit einer Hand den Takt vor. Für die Sänger war an diesem Abend alles normal, waren selbst die Gerüchte über den drohenden Krieg und die Geschichten von Cherts verrückten Abenteuern in erster Linie eine Zerstreuung. Die Funderlinge überstanden Kriege oder hatten sie zumindest bisher immer überstanden: Als Bauleute, Stollengräber, Mineure waren sie zu wertvoll, um getötet zu werden, und in ihren labyrinthischen Rückzugshöhlen zu schwer zu finden, falls doch jemand darauf verfiel, sie töten zu wollen.
Wir Steinleute bleiben dicht am Boden,
hatte sein Vater immer gesagt.
Da ist die Aussicht zwar nicht so großartig, aber man ist nicht so leicht umzuwerfen.
    Würden sie die Alte Nacht überstehen, wenn sie denn kam?
    Warum ist mein Leben in Stücke gegangen?
fragte sich Chert.
Warum hat es gerade mich getroffen?
     
    Zu seinem Erstaunen führte ihn das Mädchen ins Herz der Burg. Am Rabentor drängten sich Menschen, und die Wächter debattierten mit Leuten, die unter verschiedensten Erklärungen Einlaß begehrten. Ein Wachsoldat erkannte das Mädchen und ließ es durch, musterte jedoch den Funderling mißtrauisch, ehe er ihm ebenfalls gestattete, die Hauptburg zu betreten. Willow sprach mit niemandem, führte ihn einfach nur über Höfe, durch Gärten und überdachte Gänge, bis selbst Cherts feiner Orientierungssinn verwirrt war. Die Sonne war untergegangen, die Luft schneidend kalt. Chert war froh, daß er seinen warmen Mantel mitgenommen hatte, obwohl er sich gar nicht hatte vorstellen können, ihn zu brauchen, weil ihm die Hitze der Tiefe noch so gegenwärtig war. Es betrübte ihn ein wenig, daß ihn Opalia nicht wie sonst daran erinnert hatte, den Mantel mitzunehmen, aber er sagte sich, daß nicht einmal seine ach so umsichtige Frau an alles denken konnte, schon gar nicht an einem so seltsamen Tag.
    Als er den Mantel schließlich angezogen hatte, führte ihn Willow durch ein Tor in einen Garten mit Bäumen und einigen wenigen Fackelhaltern. Chert wußte nicht, was für ein Garten es war, und kannte auch den Mann nicht, der auf einer niedrigen Bank

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