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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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saß. Er hatte halb damit gerechnet, daß Chaven hinter dieser geheimnisvollen Einbesteilung steckte, und mußte gegen eine Mischung aus Enttäuschung und Angst ankämpfen, als er statt dessen diesen Fremden vorfand.
    Der Mann wandte sich ihnen zu; seine Augen wirkten seltsam teilnahmslos, genau wie die des Mädchens. Er war geradezu das Gegenteil von Chaven, jünger als der Arzt und viel dünner, und sein Haar war so roh gestutzt, als hätte er es selbst abgesäbelt — mit dem Messer und ohne etwas zu sehen.
    Vielleicht braucht er ja deshalb den Spiegel,
dachte Chert, aber ihm war nicht nach Scherzen. »Ihr habt nach mir geschickt«, sagte er laut und so fest, wie er irgend konnte. »Als ob Ihr mein Herr wärt und nicht nur der Herr dieses Mädchens hier. Aber Ihr seid nicht mein Herr, also sagt mir, worum es geht.«
    »Habt Ihr den Spiegel mitgebracht?« Der Mann sprach langsam und leise.
    »Beantwortet zuerst meine Fragen. Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?«
    »Wer ich bin?« Der Fremde sagte es so gedehnt, als wäre es eine überraschende Frage. »Hier an diesem Ort nennt man mich Gil. Ich glaube, ich habe noch einen anderen Namen ... aber ich weiß ihn nicht mehr.«
    Chert lief ein Schauer über den Rücken. Der Mann hatte die unbeteiligte Gelassenheit der Verrückten, so wie Cherts alter Großvater in den letzten Jahren seines Lebens, als er nur noch in seinem Haus am Feuer gesessen hatte wie eine Eidechse, sich vom Sonnenaufgang, den er nicht mehr sah, bis zum Ende des Tages kaum gerührt hatte.
    »Ich weiß nicht, was der Unsinn soll, ich weiß nur, daß Ihr mich von zu Hause weggerufen habt, in einem Moment, da meine Familie mich dringend braucht. Ich frage Euch noch einmal — was wollt Ihr?«
    »Die Auslöschung zweier Arten von Wesen verhindern. Die Endgültigkeit der Großen Niederlage noch ein wenig hinausschieben, wenn sie sich auch nicht für immer abwenden läßt.« Der Mann, der sich Gil nannte, nickte langsam, als verstünde er jetzt erst, was er da gesagt hatte. Zum erstenmal lächelte er — ein leises, gespenstisches Lächeln. »Reicht das nicht?«
    »Ich habe keine Ahnung, was Ihr meint, wovon Ihr redet.« Chert wollte nur auf dem Absatz kehrtmachen und davongehen, ja davonrennen, bis wieder Stein über ihm war. Am Himmel hingen Nachtwolken, so dicht, daß weder Mond noch Sterne sichtbar waren, aber das war doch längst nicht so, wie zu Hause zu sein, unter vertrauten Menschen und Dingen.
    »Ich auch nicht«, sagte Gil. »Aber
etwas
wurde mir enthüllt — Ihr müßt mir den Spiegel geben. Dann ist Euer Werk getan.«
    Chert hätte beinah wieder nach dem Spiegel gegriffen und ihn festgehalten, obwohl der seltsame Mann und das Mädchen nicht so aussahen, als wollten sie ihn mit Gewalt an sich bringen. Dennoch, sie waren doppelt so groß wie er ...
Sollen sie's doch versuchen,
dachte er.
Sollen sie doch versuchen, mir das wegzunehmen, wofür mein Sohn beinah gestorben wäre.
Und da erst wurde ihm klar, daß er das schon seit einiger Zeit gedacht hatte, ohne es in Worte zu fassen: Der Spiegel war die Antwort. Der Spiegel hatte Flint in die Tiefen der Mysterien geführt und ihn beinah das Leben gekostet. »Nein, den Spiegel kriegt Ihr nicht — selbst wenn ich ihn hätte.«
    »Ihr habt ihn«, sagte Gil sanft. »Ich fühle es. Und er gehört Euch nicht.«
    »Er gehört meinem Sohn.«
    Gil schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, obwohl mir dieser Teil nicht recht klar ist. Aber das spielt keine Rolle. Jetzt habt Ihr ihn. Wenn Ihr ihn mir gebt, könnt Ihr nach Hause gehen und ihn einfach vergessen.«
    »Ich werde ihn Euch nicht geben.«
    »Dann müßt Ihr mit mir kommen«, sagte der seltsame Mann. »Es ist schon beinah soweit. Der Spiegel muß ihr überbracht werden. Sie muß ihn bekommen. Das wird zwar die Alte Nacht und die Vernichtung aller nicht abwenden, aber es bringt vielleicht einen Aufschub.«
    »Was soll das heißen? Wovon redet Ihr? Sie muß ihn bekommen? Wer im Namen der Erdalten ist ›sie‹?«
    »Sie trägt den Namen Yasammez«, erklärte ihm der Fremde. »Sie ist eine der Ältesten. Sie ist der Tod, und sie ist gekommen, um euch alle auszulöschen.«

    Die Sonne versank hinter den Hügeln. Von dem Felsvorsprung aus, auf dem sie saßen und nach Südosten zur Festung hinblickten, obwohl diese noch zu fern war, um sichtbar zu sein, war das Gras ein feuchtes Sattgrün und der Himmel von Sonne und Wolken marmoriert. Es wirkte alles wie ein frischer, kühler Tag um die Wintersonnwende,

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