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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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ja, dann kann ich Euch vielleicht einen Rat geben oder Euch sogar helfen.« Uttas langes, kräftiges Gesicht schien sich für einen Moment zu verdüstern. »Aber jetzt noch nicht.« Sie setzte sich kerzengerade auf. »Uns bleibt noch eine Stunde bis zum Abendessen, Prinzessin. Sollen wir sie nutzbringend verwenden? Lernen könnte Euch von Euren Sorgen ablenken, für ein Weilchen zumindest.«
    »Vielleicht.« Vom vielen Weinen fühlte sich Briony so schlaff, als hätte sie keinen einzigen Knochen im Leib. Es war ziemlich dunkel im Raum, da hier nur eine einzige Kerze brannte. Die Hauptlichtquelle des kargen Gemachs war ein Fenster, durch das jetzt ein schmaler Lichtbalken hereinfiel. Er endete in einem hellen Rechteck, das in dem Maße die Wand hinaufkroch, wie die Sonne ihrem Abendhafen entgegensank. Vorhin war sich Briony sicher gewesen, daß das Schlimmste bereits eingetreten war, aber jetzt war ihr, als fühlte sie die schwarzen Schwingen immer noch über sich schlagen, als wäre da noch eine Gefahr, die sie nicht kannte.
    »Dann lehrt mich etwas«, sagte sie schleppend. »Was bleibt mir anderes?«
    »Ihr habt das Lernen, ja«, erklärte ihr Utta. »Aber Ihr habt auch das Beten. Ihr dürft das Beten nicht vergessen, Kind. Und Ihr habt Zorias Schutz, wenn Ihr ihn denn verdient. Das ist nicht das Schlechteste, um sich daran zu klammern.«

    Als Chaven die Untersuchung des Jungen abgeschlossen hatte, griff er in die Tasche und zog eine runde Glasscheibe hervor, die in Messing gefaßt und mit einem Griff versehen war. Er gab sie Flint, der sofort hindurchschaute. Er guckte zuerst zu der flackernden Lampe empor, hielt dann das Glas nah an die Wand, um die Maserung des Steins zwischen den Wandteppichen zu studieren.
    Vielleicht gibt er ja doch noch einen richtigen Funderling ab,
dachte Chert.
    Der Junge wandte sich ihm zu. Er lachte, und sein rechtes Auge war riesig hinter dem Glas. Im Moment schien Flint einfach nur ein Kind von fünf oder sechs Sommern.
    Chaven dachte ebenso. »Ich kann nichts Außergewöhnliches an ihm feststellen«, sagte der Arzt leise, während sie den Jungen beim Spiel mit dem Vergrößerungsglas beobachteten. »Keine überzähligen Finger oder Zehen, keine mysteriösen Male am Körper. Sein Atem ist wohlriechend — soweit man das bei einem Kind sagen kann, das heute offenbar schon scharf gewürzte Rüben gegessen hat —, und seine Augen sind klar. Alles an ihm wirkt ganz normal. Das beweist zwar noch gar nichts, aber solange sich nicht irgendwelche seltsamen Dinge an ihm zeigen, muß ich erst einmal davon ausgehen, daß er ein ganz gewöhnliches Kind ist, das sich über die Schattengrenze verirrt hat und, statt wie einige wenige zu Fuß zurückzukommen, diesen Reitern begegnete und von ihnen wieder hinausgebracht wurde.« Chaven runzelte die Stirn. »Ihr sagt, er hat keine Erinnerung daran, wer er ist. Wenn das alles ist, was er verloren hat, dann ist er ein Glückskind. Wie ich schon sagte, bei allen, die bisher zurückgekommen sind, war der gesamte Verstand getrübt, wenn nicht gar gänzlich zerstört.«
    »Glückskind. Ja, es scheint so.« Chert hätte erleichtert sein sollen, zumal das Kind ja, fürs erste zumindest, bei ihnen bleiben würde, aber er wurde einfach das Gefühl nicht los, daß da doch noch etwas Unentdecktes war. »Aber wenn sich die Schattengrenze verschoben hat, warum sollten die ... die Leisen dann so freundlich sein, ein Menschenkind wieder über die Grenze zu schaffen? Wahrscheinlicher wäre es doch, daß sie ihm die Kehle durchschneiden wie einem Kaninchen und es irgendwo im nebligen Wald liegenlassen.«
    Chaven zuckte die Achseln. »Darauf weiß ich keine Antwort, mein Freund. Auch wenn sie vor langer Zeit bei Kaltgraumoor Menschen abgeschlachtet haben, so haben die Zwielichtler doch immer schon Dinge getan, die wir nicht verstehen. In den letzten Monaten des Krieges stolperte ein Trupp Soldaten aus Fael, der nächtens sein Lager verlegte, genau in ein Elbenfest, aber statt die Männer — die bei weitem in der Unterzahl waren — zu massakrieren, haben die Qar ihnen nur zu essen gegeben und sie an Trinkorgien teilhaben lassen. Einige Soldaten behaupteten sogar, sich in jener Nacht mit Elbenweibern vereinigt zu haben.«
    »Die ... Qar?«
    »Ihr alter Name.« Chaven machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe einen Großteil meines Lebens darauf verwandt, sie zu studieren, weiß aber noch immer kaum mehr als zu Beginn. Sie können Menschen gegenüber unerwartet

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