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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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freundlich, ja sogar großzügig sein, aber kein Zweifel, wenn die Schattengrenze über uns hinwegzieht, dann wird sie finsteres Unheil mit sich bringen.«
    Chert schauderte. »Ich bin zu oft in ihrer Nähe gewesen, um auch nur einen Augenblick daran zu zweifeln.« Er sah einen Moment zu dem Jungen hinüber. »Werdet Ihr dem Prinzregenten und seiner Familie mitteilen, daß sich die Grenze verschoben hat?«
    »Das werde ich wohl müssen. Aber zuerst muß ich das Ganze durchdenken, damit ich ihnen gleich mit einem Vorschlag kommen kann. Sonst fallen Entscheidungen aus Angst und Unsicherheit heraus, und das geht selten gut aus.« Chaven erhob sich von seinem Schemel und strich sich das Gewand glatt. »Jetzt muß ich wieder an meine Arbeit, die nicht zuletzt darin bestehen wird, mir das, was Ihr mir erzählt habt, durch den Kopf gehen zu lassen.«
    Als Chert den Jungen zur Tür führte, drehte Flint sich noch einmal um. »Wo ist die Eule?« fragte er Chaven.
    Der Arzt zuckte zusammen, sagte dann lächelnd: »Was meinst du, Junge? Hier gibt es keine Eule und hat es meines Wissens auch nie eine gegeben.«
    »Doch«, sagte Flint dickköpfig. »Eine weiße.«
    Chaven schüttelte freundlich den Kopf, als er ihnen die Tür aufhielt, aber Chert schien er doch ein wenig aus der Fassung.
    Als Chaven sich vergewissert hatte, daß kein Bediensteter in Sichtweite war, ließ er Chert und den Jungen zum Vordereingang des Observatoriums hinaus. Aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar waren, hatte Chert beschlossen, zurück den oberirdischen Weg zu nehmen, durchs Rabentor. Mittags war zweifellos Wachwechsel gewesen, und die Soldaten, die jetzt am Tor Dienst taten, würden ja wohl davon ausgehen, daß Chert von ihren Vorgängern eingehend befragt worden war, ehe man ihn und seinen kleinen Begleiter in die Hauptburg gelassen hatte.
    »Wie hast du das gemeint, das mit der Eule?« fragte Chert, als sie die Treppe hinunterstiegen.
    »Mit welcher Eule?«
    »Du hast den Mann doch gefragt, wo die Eule ist, die, von der du sagst, daß sie mal in dem Raum war.«
    Flint zuckte die Achseln. Er hatte längere Beine als Chert und brauchte nicht auf die Stufen zu schauen, also guckte er in den Nachmittagshimmel. »Ich weiß nicht.« Er runzelte die Stirn, starrte irgend etwas über sich an. Die Vormittagswolken hatten sich verzogen. Chert sah nur eine schwache Mondsichel, weiß wie eine Muschel, am blauen Himmel hängen. »Er hatte Sterne an den Wänden.«
    Chert fielen die Wandteppiche mit den Edelstein-Sternbildern ein. »Ja, das stimmt.«
    »Das Blatt, die Sänger, der Weißwurz — ich kenne ein Lied darüber.« Er dachte nach, und seine Stirnfalten vertieften sich. »Nein, ich weiß es nicht mehr.«
    »Das Blatt ...?« fragte Chert verdutzt. »Der Weißwurz? Wovon sprichst du?«
    »Die Sterne — kennst du sie nicht mit Namen?« Flint war bereits auf dem Kopfsteinpflaster am Fuß der Treppe und ging schneller, so daß Chert, der immer noch vorsichtig die hohen Stufen hinabstieg, kaum verstehen konnte, was er sagte. »Es gibt noch die Honigwabe und den Wasserfall ... aber die anderen weiß ich nicht mehr.« Er blieb stehen und drehte sich um. Sein Gesicht unter dem fast weißen Schopf war so traurig und verwirrt, daß er wie ein kleiner alter Mann aussah. »Ich kann mich nicht dran erinnern.«
    Chert hatte ihn jetzt eingeholt, außer Atem und irritiert. »Diese Namen habe ich noch nie gehört. Die Honigwabe? Wo hast du das gelernt, Junge?«
    Flint marschierte weiter. »Ich kannte mal ein Lied über die Sterne. Ich kenne auch eins über den Mond.« Er summte ein Melodiefetzchen, das Chert kaum hören konnte, dessen schwermütige Schönheit ihm aber durch und durch ging. »Die Worte weiß ich nicht mehr«, sagte Flint. »Aber es geht darum, wie der Mond herunterkommt, um die Pfeile zu suchen, die er auf die Sterne abgeschossen hat ...«
    »Aber der Mond ist doch eine Frau — glaubt ihr Großwüchsigen das nicht alle?« Die Ironie seiner eigenen Worte — der Junge war nicht größer als er, eher ein bißchen kleiner — drang kaum durch seine Verwirrung. »Mesiya, die Mondgöttin?«
    Flint lachte, wie Kinder über die Dummheit Erwachsener lachen. »Nein, er ist der kleine Bruder der Sonne. Das weiß doch jeder.«
    Er hüpfte vorneweg, begeistert vom Spektakel einer Straße voller Menschen und interessanter Dinge, und Chert hatte wieder Mühe hinterherzukommen. Er war sich sicher, daß eben irgend etwas — etwas Wichtiges — passiert war,

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