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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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aber er kam beim besten Willen nicht drauf, was.

6

Blutsbande
    Ein verborgener Ort:
Wände aus Stroh, Wände aus Haar,
Jeder Raum faßt drei Atemzüge,
Jeder Atemzug eine Stunde.

Das Knochenorakel
    Sie hatte sich nicht in der labyrinthischen alten Stadt Qul-na-Qar niedergelassen, obwohl ihr dort jederzeit ein Ehrenplatz zugestanden hätte, kraft ihres Blutes und ihrer Taten — und ihrer Bluttaten. Vielmehr stand ihr Haus auf einem hohen Berg im Gebirge
Reheq-s'lai,
was etwa soviel hieß wie Wanderwind. Das Haus war, obgleich es fast die gesamte Bergkrone einnahm, aus den meisten Blickwinkeln eher unscheinbar, genau wie seine Herrin. Nur wenn die Sonne im richtigen Himmelsviertel stand und der Betrachter genau im richtigen Winkel hinsah, war zwischen den dunklen Mauersteinen das Funkeln von Kristall und Himmelsstein zu erkennen. In einem allerdings war ihr Haus wie das große Qul-na-Qar: Es reichte tief in den Fels des Berges hinein und besaß eine Menge unterirdischer Räume, von denen ein Geflecht von Gängen ausging wie das Wurzelwerk eines sehr alten Baums. Über der Erde lagen fast alle Fenster hinter geschlossenen Läden — jedenfalls wirkte es so. Ihre Dienerschaft war schweigsam, und sie hatte kaum je Besuch.
    Manche jüngeren Qar, die von ihrem Einsamkeitsfimmel gehört, sie selbst aber natürlich noch nie gesehen hatten, nannten sie Fürstin Stachelschwein. Andere, die sie besser kannten, schauderte es, wenn dieser Name fiel, weil er zufällig so viel Wahrheit enthielt — sie hatten schon gesehen, wie sie in Augenblicken wilder Wut eine Art dunkles Stachelkleid hervortrieb, eine Hülle aus Phantomdornen.
    Der Name, den sie führte, war Yasammez, aber nur wenige kannten ihn. Ihren richtigen Namen kannten nur zwei oder drei Lebende.
    Ihr Haus trug den Namen
Shehen,
was »Tränenstrom« hieß. Da es ein Qar-Wort war, hatte es auch noch andere Bedeutungen — es evozierte ein unerwartetes Ende und auch den Duft jener Pflanze, die in Sonnenscheinlanden Myrte hieß — aber vor allem bedeutete es »Tränenstrom«.
     
    Yasammez, so hieß es, habe in ihrem ganzen Leben nur zweimal gelacht: als sie als Kind erstmals ein Schlachtfeld gesehen und den Rauch der Feuer gerochen hatte, und dann noch einmal, als sie aus Qul-na-Qar verbannt worden war, wegen Verbrechen oder Akten des Hochmuts, die die meisten Lebenden längst vergessen hatten. »Ihr könnt weder mich verstecken noch euch vor mir«, hatte sie ihren Anklägern angeblich erklärt, »weil ihr mich nicht finden werdet. Ich bin verloren, seit ich meinen ersten Atemzug tat.« Yasammez war, da herrschte Einigkeit, für den Krieg und den Tod gemacht, so wie ein Schwert, dessen wahre Schönheit erst erkennbar wird, wenn es Verderben bringt.
    Und es hieß auch, daß sie erst dann zum dritten Mal lachen würde, wenn der letzte Mensch starb oder sie selbst ihr Leben aushauchte.
    Keine der Geschichten sagte Genaueres darüber, wie ihr Lachen klang, nur, daß es schrecklich war.
     
    Yasammez stand in ihrem Garten aus niedrigen, dunklen Pflanzen und großen grauen Felsen, geformt wie die Schatten, die Träumende heimsuchen, und blickte auf ihr steil abfallendes Land. Der Wind wehte so heftig wie immer, schlug ihren Mantel enger um sie und löste ihr Haar aus den beinernen Nadeln, mit denen es festgesteckt war, war aber nicht stark genug, um den Nebel aus den Schluchten zu vertreiben, die den Berg kerbten wie Kratzer von Katzenkrallen. Dennoch pfiff er so laut, daß keiner ihrer bleichen Bediensteten, selbst wenn er direkt neben ihr gestanden hätte, die Melodie hätte hören können, die Lady Yasammez vor sich hin sang. Aber es hätte ohnehin keiner von ihnen geglaubt, daß seine Herrin so etwas tun könnte. Und ganz gewiß hätte keiner das Lied erkannt, das schon alt gewesen war, ehe sich der Berg, auf dem sie stand, aus der Erde emporgetürmt hatte.
    Eine Stimme sprach jetzt in ihr Ohr, und die uralte Musik verstummte. Sie sah sich nicht um, weil sie wußte, daß die Stimme nicht aus dem kargen Garten oder aus dem Haus kam. So verschlossen, zornig und einsam sie auch war, kannte Yasammez diese Stimme doch fast besser als ihre eigene. Es war die einzige Stimme, die sie je bei ihrem richtigen Namen nannte.
    Jetzt rief sie diesen Namen wieder.
    »Ich höre, o mein Herz«,
sagte Fürstin Stachelschwein lautlos.
»Ich muß es wissen.«
    »Es hat bereits begonnen«,
antwortete die Herrin des Bergkronenhauses, aber es versetzte ihr einen Stich, solche Besorgnis in den

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