Die Grenze
hielten. Er wurde rot und klatschte seine Handschuhe hin.
Shaso, der gerade die Schnürbänder seiner gepolsterten Übungsweste löste, kräuselte verächtlich die Oberlippe. »Bei den hundert Titten der Großen Mutter, Junge, ich schlage dich nicht, ich unterweise dich.«
Es war die ganze Zeit schon schiefgelaufen. Selbst um die langen, langweiligen Stunden totzuschlagen, bis sein Bruder den Kronrat einberief, war das Fechten ein Fehler gewesen. Briony hätte es vielleicht zu einer gesitteten oder gar vergnüglichen Angelegenheit gemacht, aber Briony war nicht hier.
Barrick setzte sich auf den Boden und begann, seine Beinpolster zu lösen. Er starrte auf Shasos Rücken. Die eleganten, ruhigen Bewegungen des alten Mannes reizten ihn. Wie konnte er so gelassen sein, wenn doch alles zusammenbrach? Barrick wollte den Waffenmeister irgendwie aufstören.
»Warum hat er Euch Lehrer genannt?«
Shasos Finger wurden langsamer, aber er drehte sich nicht um. »Was?«
»Ihr wißt schon. Der Gesandte aus Hierosol — dieser Dawet. Warum hat er Euch Lehrer genannt? Und noch mit einem anderen Wort — ›Mor-ja‹. Was heißt das?«
Shaso schüttelte die Weste ab. Durch sein schweißgetränktes Leinenunterhemd zeichnete sich jeder einzelne Muskel seines breiten braunen Rückens ab. Das hatte Barrick schon so oft gesehen, und selbst in seinem Zorn empfand er dem alten Tuani gegenüber so etwas wie Liebe — Liebe zum Bekannten und Vertrauten, und sei es noch so unbefriedigend.
Und wenn Briony wirklich weggeht?
dachte er plötzlich.
Wenn Kendrick sie wirklich nach Hierosol schickt, damit sie diesen Ludis heiratet? Dann sehe ich sie nie wieder.
Die Empörung darüber, daß ein Räuberhauptmann seine Schwester zur Frau verlangte und sein Bruder das überhaupt in Betracht zog, erkaltete zu einem schlichteren und viel bestürzenderen Gedanken — die Südmarkfeste ohne Briony.
»Man hat mich bereits gebeten, das vor dem Kronrat zu beantworten«, sagte Shaso langsam. »Ihr werdet ja hören, was ich dort sage, Prinz Barrick. Ich will nicht zweimal darüber sprechen.« Er ließ die Weste zu Boden fallen und einfach dort liegen. Barrick starrte ungläubig hin. Shaso war normalerweise nicht nur äußerst gewissenhaft, was die Pflege seiner Waffen und seiner Ausrüstung anbelangte, sondern ging auch hart mit jedem ins Gericht, der es nicht so hielt — besonders mit Barrick. Der Waffenmeister stellte das Langschwert in den Ständer, ohne es einzuölen oder auch nur die Polsterung abzunehmen, nahm dann sein Hemd vom Haken und verließ wortlos die Waffenkammer.
Barrick saß da und bekam kaum Luft, so als hätte ihn Shaso noch einmal in die Magengrube gestoßen. Er hatte schon lange das Gefühl, daß unter all diesen unbekümmerten Menschen hier in Südmark er der einzige war, der begriff, wie schlimm es stand, der die Abgründe und die Not sah, die andere nicht bemerkten oder absichtlich übersahen, der die wachsende Gefahr für seine Familie und das Königreich spürte. Jetzt, da sich der Beweis vor ihm entfaltete, wünschte er, er könnte das alles wegmachen — könnte sich einfach umdrehen und geradewegs in seine Kindheit zurückflüchten.
Nach dem Abendessen war Cherts Magen voll, aber in seinem Kopf herrschte immer noch Unruhe. Opalia gluckte fröhlich um Flint herum, maß ihn mit einer Knotenschnur, während er ungeduldig zappelte. Sie hatte von den paar Kupferstücken, die eigentlich für einen neuen Kochtopf bestimmt waren, etwas Tuch gekauft, um dem Jungen ein neues Hemd zu nähen.
»Sieh mich nicht so an«, erklärte sie ihrem Mann. »Ich war schließlich nicht mit ihm draußen und habe ihn dieses Hemd so verdrecken und zerreißen lassen.«
Chert schüttelte den Kopf. Es war nicht die Ausgabe für das neue Hemd, die ihm Sorgen machte.
Die Haustürglocke wurde zweimal kurz geläutet. Opalia drückte dem Jungen die Meßschnur in die Hand und ging aufmachen. Chert hörte sie sagen: »Oh — tretet doch bitte ein.«
Sie kam mit hochgezogenen Augenbrauen zurück, gefolgt von Zinnober, einem gutaussehenden, stattlichen Funderling, Oberhaupt der bedeutenden Quecksilber-Familie.
Chert erhob sich. »Magister, welche Ehre. Setzt Euch doch.«
Zinnober nickte und ließ sich mit einem leisen Grunzen nieder. Obwohl er ein paar Dutzend Jahre jünger war als Chert, begann sich seine Muskelmasse doch bereits in Fett umzuwandeln. Sein Geist aber war immer noch schlank und beweglich; Chert achtete den schnellen Verstand dieses
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