Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
sich.
Esser stellte die Musik etwas leiser.
»Es gibt im Leben eines Politikers grundsätzlich Anekdoten, die böse enden könnten. Sie enden meist nicht wirklich böse, weil alle Beteiligten die Fähigkeiten haben, zu vergessen, und weil anderes im Leben wichtig wird. Als unsere Kanzlerin neu in ihrem Amt war, fand angeblich ein Ereignis statt, das an sich von ungeheurer Banalität war. Es war ein Nachmittagskaffee bei ihren Eltern. Da saß nun die kleine Familie zusammen mit einigen Honoratioren der heimatlichen Kirchengemeinde, und es kam zu einem gemütlichen Tratsch. Man unterhielt sich gut gelaunt über einige Mitglieder in dieser Gemeinde.
Zur Sprache kam auch ein Mann, der Arthur Schlauf heißt, genannt Atze. Dieser Schlauf war äußerst umtriebig und Kaufmann von Beruf – übrigens ein begnadeter, der dem Teufel eine Sauna verkaufen kann. Schlauf, damals ein junger Mann, hatte sich an allem Möglichen versucht, unter anderem auch am Betrieb einer Diskothek. In der Runde war man sich schnell einig: Dieser Schlauf sei ein kleiner Zuhälter, zumal er auch noch junge Frauen beschäftigte, die an Stangen eindeutig obszöne Darbietungen zum Besten gaben und denen die völlig betrunkenen Landbewohner Geldscheine ins Höschen stecken durften. Schlauf bekam den Spitznamen ›der Stangenhalter‹, und die Kaffeerunde fand das alles sehr erheiternd. Bis hierher dürfen Sie kichern, jetzt kommt das Böse. Das alles machte in der Landschaft dort oben die Runde, und Schlauf erfuhr davon, wurde sogar in den Kneipen verspottet. Das hat er nie verwunden.«
»Die Kanzlerin und ein trauriger Zuhälter?«, fragte Dehner gelangweilt.
»Na ja, ein Zuhälter ist er eben wirklich nicht, er ist nur ein begnadeter Verkäufer. Er fuhr auch keinen Porsche und hatte auch nie eine Weißblonde im Ledermini neben sich. Er fuhr sogar nur einen Polo, als er schon viel Geld verdient hatte. Wie auch immer: Es kam ihm zu Ohren, dass er in den Augen der höchst achtbaren Bürger des kleinen Gemeinwesens nichts anderes als ein mieser, kleiner Mann war, mit einer schweren goldenen Kette im offenen Hemd. So etwas trug er übrigens nie. Aber diese Beleidigung hatte schlimme Folgen. Damals wohnte Atze Schlauf noch bei seinen Eltern, und die erfuhren selbstverständlich auch davon. Seine Mutter war darüber so entsetzt, dass sie ernsthaft erwogen hat, die Bundeskanzlerin wegen übler Nachrede vor den Kadi zu bringen. Dabei ist nicht einmal erwiesen, ob die ganze Kaffeerunde überhaupt so stattfand, geschweige denn, was die Kanzlerin formulierte. Die Mutter bekam schwere Depressionen, begann zu kränkeln und starb schließlich.
Dann ging Atzes Vater wutentbrannt direkt gegen die Kanzlerin vor. Er zeigte sie wegen übler Nachrede an. Dem Vernehmen nach sorgten ein paar fähige Anwälte dafür, dass diese Anzeige einfach im Orbit verschwand. In seiner Not setzte Atze seinem Vater eine schöne Villa hin, in die der Vater aber nie einzog. Der Vater litt anschließend ebenfalls unter massiven Depressionen, und mittlerweile ist es ganz still um ihn. Der Mann wird wahrscheinlich auch nicht mehr allzu lange leben. Kurz und gut: Die ganze Provinzposse endet im Sterben.
Jetzt kommt unsere Rolle. Wir hatten Atze niemals in unserem Programm, er war gar nicht vorgesehen, wir wussten nichts von irgendeiner Beleidigung durch unsere Bundeskanzlerin. Aber er vergaß das nie. Er war zutiefst gekränkt und ist das auch heute noch. Und er macht die Kanzlerin dafür verantwortlich, dass seine Mutter gestorben ist und der Vater in seinen Depressionen unterging. Er verließ Deutschland und wandte sich einem höchst risikoreichen Markt zu: Er konzentrierte sich auf Krisen- und Kriegsgebiete. In denen brauchen Regierende wie rebellierende Verbraucher alles, was man sich vorstellen kann. Und Arthur Schlauf verkauft es ihnen. Das geht von Krankenhausbedarf bis hin zu Lokusbürsten, von Papierwindeln bis hin zu einfacher, billiger Kleidung und einfachen Nahrungsmitteln. Schlauf hat sein Mekka gefunden, und man muss ihm zubilligen, dass er das großartig und äußerst professionell macht. Natürlich wird er dabei reich, weil er seine Waren in unvorstellbaren Mengen auf dem Planeten herumschiebt. Seine Handynummer gehört zu den begehrtesten auf dem Sektor der sogenannten staatlichen Notversorgungen, auf Atze ist unbedingt Verlass.«
»Und was haben wir mit dem zu tun?«, unterbrach ihn Dehner. »Ich meine, was sollen wir da …«
»Langsam, junger Mann, langsam. Da war
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