Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
zum Beispiel die Geschichte mit Bin Laden, der Inkarnation aller Terroristen. Sie erinnern sich doch, dass der in Pakistan von amerikanischen Elitesoldaten ausgeräuchert und erschossen wurde. Elf Tage vorher hat Atze uns telefonisch die vermutliche pakistanische Fluchtadresse von Bin Laden durchgegeben. Wir hatten zu wenig Zeit, das zu prüfen, aber wahrscheinlich hatten wir sie vor den amerikanischen Brüdern. Ich muss Ihnen nicht sagen, was das heißt. Wir haben Atze niemals in festen Abständen abgeschöpft, er rief an, wenn er irgendetwas für interessant hielt. Dann trafen wir ihn, das wurde übrigens meistens von Müller erledigt. Kurzum: Dieser Atze hat uns über die Jahre immer wieder mit ausgesprochen delikaten Einzelheiten versorgt, weil er einfach ein Typ ist, der sich dort herumtreibt, wo Krieg und Krise herrschen. Und weil er dort, wo er Handel treibt, dauernd mit den wichtigsten Einheimischen in Berührung kommt. Für Sie ist wichtig zu wissen, dass dieser Mann seit Jahren für uns arbeitet, er hat bei uns keinen anderen Namen als Atze. Wir bezahlen ihn grundsätzlich in bar, und ich habe immer den Verdacht, dass er sich nur bezahlen lässt, weil seiner Ansicht nach nichts im Leben kostenlos sein sollte. Nicht einmal der ehrenvolle Dienst am Vaterland. Eigentlich macht er immer den Eindruck eines hart arbeitenden Sparkassenangestellten, er sieht ausgesprochen bieder aus. Er trägt niemals eine Waffe, und er ist nirgendwo auf der Welt wirklich zu Hause, hat nur kleine Lieblingshotels überall auf dem Planeten. Er hat auch niemals Bodyguards angeheuert, er sagte mir einmal, er finde das ausgesprochen blöde, weil es ihn sofort verraten würde. Atze wird von mindestens drei deutschen Staatsanwaltschaften wegen Steuerhinterziehung gesucht, weil er niemals eine feste Adresse hatte – außer in diesem öden kleinen Nest nördlich von Berlin. Tatsächlich aber hat er eine Büroadresse. In Indien. Aber die kennen nur wir und seine Handelspartner und sonst niemand. Die deutschen Staatsanwaltschaften können unseren Atze mal kreuzweise, er hat gar nicht die Zeit, sie ernst zu nehmen. Es handelt sich um reine Steuerschätzungen, und die liegen, wie wir erfahren haben, grotesk niedrig: Die Finanzämter haben sie bei etwa zwei Millionen Euro angesetzt, was für Atze eine schwere Beleidigung darstellt. Können Sie mir folgen?«
»Ja«, sagte Dehner.
»Gut. Dann noch die Sache mit dem Vater. Der ist in einem elenden Zustand. Und ganz ohne Zweifel liebt Atze ihn. Zuweilen überkommt es ihn, dann fliegt er mit falschen Papieren nach Deutschland. Er holt sich einen Leihwagen und fährt zu seinem Vater. Und so viel wir in Erfahrung bringen konnten, endet das immer in heillosem Streit zwischen den beiden. Atze will, dass sein Vater mit ihm irgendwohin in die Südsee zieht, doch der will lieber hier in Deutschland bleiben und sterben.«
»Das ist ja übel«, sagte Dehner tonlos.
Esser nickte. »Das ist es. Müller sagte uns im letzten Telefonat aus Tripolis, Atze habe inzwischen keine Haare mehr, stattdessen eine spiegelnde Glatze.« Er ließ ein Foto zu Dehner rübersegeln.
»Wieso ist dieser Kerl plötzlich wichtig für mich?«
»Er ist dort, in Tripolis, im selben Hotel. Sie müssen ihn warnen. Es gibt Leute, die hinter ihm her sind und die die Geschichte mit der Kanzlerin kennen. Offensichtlich will man diese Geschichte ein für alle Mal in der Versenkung verschwinden lassen. Und diese Leute, die das wollen, sind jetzt hier in unserem Dienst aufgetaucht.«
Dehner nahm sich einen Augenblick Zeit, um das alles noch einmal zu überdenken. »Bedeutet das etwa, dass diese Leute ihn hier bei uns im Dienst jagen? Heißt das, dass wir infiltriert wurden?«
»Viel schlimmer, mein Junge. Sie wissen sogar, unter welchem Kürzel wir die Zahlungen an Atze verbucht haben.«
»O Scheiße«, flüsterte Dehner. »Wer verrät denn so etwas, wie kann so was passieren? Und was treibt den Atze überhaupt an?«
»Etwas ganz Seltenes: eine grenzenlose Liebe zu Deutschland«, antwortete Esser. »Und jetzt hören Sie mir genau zu!«
»Moment, noch eine Frage. Dieser Atze hat die Beleidigung niemals verwunden. Bedeutet das denn, dass er die Bundeskanzlerin hasst?«
»Nicht unbedingt. Sie ist einfach absolut unerreichbar, die Mutter, die Freundin, die Zuwendung, die er nie hatte. Für ihn wäre es das Größte, wenn bei einem Kaffeeklatsch die Kanzlerin zu ihm sagen würde: Alles in Ihrem Leben haben Sie großartig gemacht, Herr
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