Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
zwei Schritte nach vorn, griff einen kleinen schwarzen Kasten, nahm ihn hoch, zeigte ihn grinsend dem Publikum und bemerkte: »Ich lege diesen Wunderschalter auf OFF , und du sitzt ohne jede Möglichkeit der Kommunikation im Dunkeln.«
»Aha, gut zu wissen.« Krause zuckte mit den Schultern.
»Wir machen es der Reihe nach. Wir nehmen uns den von Goldhändchen entdeckten Lkw-Transport mit den zwei toten Männern vor. Ich glaube, dass du etwas dazu sagen willst«, bemerkte Krause und sah Esser an.
Der nickte, er war der Meister des Hintergrundwissens, ein wandelndes Lexikon. Hätte man ihn zur gleichen Sekunde nach einem obszönen Spruch Ludwigs XIV . gefragt oder nach dem technischen Stand der großen Flotte der Chinesen um 1300, er hätte sofort und übergangslos geschichtliche Fakten und differenzierte Betrachtungen der Vorgänge abspulen können und wäre nicht einen Augenblick lang in Verlegenheit geraten.
Zunächst fragte er jedoch: »Kann ich einen Küchenstuhl haben? Ich sitze nicht gern zwischen euch auf diesem miesen kleinen Sofa und drehe meinen Kopf alle zwei Sekunden von links nach rechts und umgekehrt.«
»Ich glaube, so etwas haben wir«, sagte Krause. »In der Küche.«
Esser holte sich einen Stuhl, setzte sich darauf und fragte: »Habt ihr die Europakarte im Kopf? Seht ihr sie vor euch? Seht ihr vor allem den italienischen Stiefel?«
Er schloss die Augen und fuhr bedächtig fort: »Versetzen wir uns in die Lage eines Menschen, der tausend Kilogramm eines Sprengstoffs kauft und diesen Sprengstoff nach Deutschland bringen will. Das Motiv ist uns nicht bekannt. Wir müssen aber davon ausgehen, dass dieser Mensch zielstrebig ist und einen Vorteil hat, den wir nicht haben: Er hat Zeit. Er muss den Stoff nicht unbedingt zu einem festen Datum irgendwo in Deutschland zur Verfügung haben. Nehmen wir Goldhändchens Szenario. Von Tirana geht das Zeug auf Paletten und dann auf ein Schiff. Das Schiff quert die Adria und lädt die Paletten auf einen Lkw. Der Lkw beginnt seine Reise nach Norden, kommt aber nur bis Rimini. Dort werden die beiden Männer, die den Laster fahren, erschossen. Sie hinterlassen keine Spuren. Die Zugmaschine des Lkw bleibt stehen, der Auflieger wird auf eine andere Zugmaschine gekoppelt und fährt weiter nordwärts. Wir wissen also nicht, wie dieser Auflieger aussieht. Wir wissen nur eines: Wenn er nach Deutschland will, dann kann er sich auf seiner Reise unter Hunderttausenden Trucks verbergen. Wir werden also trotz aller Gründlichkeit diesen Lkw nicht finden. Das alles sieht nach Mafia aus, nach einer kühlen, klaren Planung.«
»Wir haben Dehners Hinweis auf diese Frau, und wir müssen sein Misstrauen ernst nehmen. Wir wissen nicht, ob die Frau im Auftrag handelt oder ob sie eine Solistin ist. Das soll uns zunächst auch nicht kümmern. Sehen wir uns die Möglichkeiten der Routen an. Und die stimmen mich nicht gerade heiter, denn es gibt verdammt viele Strecken und Alpenpässe. Nehmen wir einmal den Ort, an dem man die beiden Toten fand. Da gibt es zwei grundsätzliche Möglichkeiten: Ich kann die Strecke Ravenna – Ferrara – Mantua – Verona – Trient – Bozen – Österreich auswählen. Ich kann aber auch von Mantua aus die Strecke Brescia – Bergamo – Como – Schweiz nehmen. Wir sollten davon ausgehen, dass der Transport die Strecke nimmt, die am meisten befahren ist, denn da kann sich der Lkw am besten verstecken.« Er hielt inne und sah Krause an. »Habt ihr Sprudel im Haus?«
»Im Eisschrank. Bedien dich.«
Esser verschwand in der Küche, tauchte einen Moment später wieder auf und trank direkt aus der Flasche.
»Ich mache euch darauf aufmerksam, dass es noch ganz andere Möglichkeiten gibt. Ich kann die Paletten mit dem Sprengstoff teilen, also in kleinen Portionen als Zuladung auf die Lkws bringen. Ich kann auch auf der anderen Seite des italienischen Stiefels, also im Westen, die Paletten erneut auf ein Schiff laden, das ganz Europa umrundet, an Gibraltar vorbei den Atlantik erreicht, dann nach Norden schippert. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir zu wenig.«
»Sollten wir Alarm schlagen?«, fragte Krause.
»Sollten wir!« Sowinski nickte energisch. »Wir können es nicht riskieren, einfach zu warten. Wir sollten das deutsche Terror-Abwehrzentrum informieren und ebenso alle Zollbehörden im europäischen Bereich. Natürlich auch Interpol sowie alle polizeilichen Einrichtungen. Wir sollten zu einer verdeckten Fahndung aufrufen. Ich habe Goldhändchen
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