Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
aber nicht warten. Er muss es jetzt wissen.«
»Was ist denn mit dir los, du alte Zicke? Was soll das Theater?« Sowinski wurde lauter.
»Aber es kann auch sein, dass ich danebenliege.«
»Ja und? Ich liege zweimal pro Tag daneben. Was soll’s?«
»Na schön, dann komme ich zu dir rüber.«
Sowinski rief Esser über die Standleitung und erklärte: »Goldhändchen kommt jetzt. Hast du Zeit?«
»Bin schon da«, sagte Esser.
Von Zeit zu Zeit litt Goldhändchen unter einem erschreckenden Mangel an Selbstbewusstsein. Jeder, der mit ihm arbeitete, kannte das, aber nur selten war Goldhändchen bereit, diesen Zustand zuzugeben. Esser nannte das »die völlige Unschuld eines Hochbegabten«.
Als er schließlich in der Tür stand, wirkte er wie ein Bittsteller.
»Was ist?«, fragte Esser. »Hat dich jemand beleidigt?«
»Meine Leute gehen mir manchmal auf die Nerven«, erklärte Goldhändchen. »Mir ist im Moment einfach alles zu viel!« Er hielt einen dünnen blauen Aktenordner in der Hand.
»Das hat man schon mal, ist doch ganz menschlich«, beruhigte ihn Esser.
»Dann setz dich mal und leg los«, forderte Sowinski ihn auf. »Wir hören zu und entscheiden dann in deinem Sinne.«
Wie immer, wenn er unsicher war, setzte sich Goldhändchen ganz vorn auf die Kante des Ledersessels, hielt sich unnatürlich steif und aufrecht und atmete tief ein und aus.
Er trug weiße Cowboystiefel mit Holzabsätzen zu einer hellroten Cordhose, und sein langes Haar hatte er mit einem purpurfarbenen Band zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Aber ihr müsst mir die Wahrheit sagen«, flüsterte er theatralisch. »Ich will mich nicht blamieren.«
»Das ist klar«, beruhigte ihn Esser. »Wir sagen dir schon, wenn du Blödsinn redest.«
Goldhändchen nickte. »Habt ihr das interessante Memo gelesen, das Dehner nach seinem Auftrag in Tirana geschrieben hat?«
»Aber ja«, sagte Esser. »Was ist damit?«
»Er schreibt darin, dass er eine Frau getroffen hat, die tausend Kilo C4 kaufte und sich danach erkundigte, wie es am besten abzuholen sei. Sie fragte nach einer Ladung per Lkw, klar?«
»Ja«, sagte Sowinski. »Das habe ich gelesen. Was ist damit?«
»Vielleicht ist das getürkt, vielleicht sollte das mit dem Lkw nur ablenken«, stellte Goldhändchen fest.
»Und warum?«, fragte Esser.
»Na ja, Dehner hat zwei Transportwege beschrieben. Einmal das Abholen des Stoffes mit dem Lkw, das andere Mal das Versenden des Stoffes auf einem Schiff. Was ist, wenn die Frau es als Schiffsladung auf den Weg gebracht hat? Was ist, wenn es gar keinen Lkw gab?«
»Das kann natürlich sein«, sagte Esser. »Aber warum diese Verschleierung des Transportweges? Das macht doch keinen Sinn, das ist dem Verkäufer und Hersteller des Sprengstoffs doch vollkommen egal. Er hat das Bargeld bekommen, Schluss, aus.«
»Das dachte ich anfangs auch«, erklärte Goldhändchen besonnen. Er hielt seine Augen jetzt geschlossen. »Dann habe ich noch einmal darüber nachgedacht. Wenn die Frau die tausend Kilo Sprengstoff bar bezahlt hat, dann dürfte sie etwa achtzig bis einhundert Dollar pro Kilo dafür hingelegt haben. Mal tausend. Das ist richtig viel Geld. Da reicht es nicht, sich nur zu erkundigen, wie man das mit einem Lkw abtransportieren kann. Das wäre ganz schön fahrlässig und dumm. Was ist, wenn sie mit dieser Frage nach dem Lkw-Transport nur eine falsche Spur legen wollte? Was ist, wenn sie mit dem Hersteller von Anfang an den Seeweg ausgemacht hat?«
»Das ist zwar um die Ecke gedacht, kann aber sein«, meinte Esser. »Das hieße, dass sie mit der Erkundigung über Lkw-Transporte nur Neugierige befriedigen wollte? Zum Beispiel unseren Thomas Dehner? Oder seinen albanischen Informanten? Gut. Nehmen wir das mal an. Und wie geht es weiter?«
»Das Zeug steht also auf Paletten und geht auf ein Schiff. Das Schiff läuft direkt nach Bari in Italien, quer über die Adria. Die Paletten werden abgeladen und auf einen Lkw umgeladen. Die Reise nach Norden kann beginnen. Denn angeblich ist die Fracht für Deutschland bestimmt. Okay? Könnt ihr mir folgen? Ist das einleuchtend? Oder ist das einfach Mist?« Er hielt die Augen wieder geschlossen, als könne er es nicht ertragen, jetzt gedemütigt zu werden.
»Das ist so weit okay, würde ich sagen«, stimmte Esser zu.
»Dann also weiter«, sagte Goldhändchen fast tonlos. »Das Schiff kommt in Bari an, der Sprengstoff ist auf einen Lkw umgeladen, der fährt nach Norden.«
»Das wissen wir nicht genau, aber es war
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