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Die große Flut

Die große Flut

Titel: Die große Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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Zelt liegt, würde ich meinen, er säße jetzt vor mir. Wie ist das möglich?«
    »Wir sind Zwillinge«, erklärte Sandy zum hundertsten Mal.
    »Zwillinge. Wir hatten noch nie einen ›Zwillinge‹ in der Oase.« Er wies mit dem Kopf auf das Zelt. »Ist mein Vater da?«
    Sandy nickte. »Er ruht sich aus.« Dann sagte er hastig: »Aber er freut sich bestimmt, dich zu sehen.« Insgeheim bezweifelte er das allerdings.
    Ohne ein weiteres Wort betrat Noah das Zelt.
    Noah!
    Plötzlich war Sandy alles klar. Lamech hatte immer nur von »meinem Sohn« gesprochen, die Frauen hatten ihn immer nur als »unseren Vater« bezeichnet.
    Noah!
    Bisher hatte Sandy geglaubt, er und Dennys seien in ein fremdes Sonnensystem verschlagen worden. Wenn das aber der Noah mit der Sintflut war, befanden sie sich nach wie vor auf der Erde und waren nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit gereist! Das würde die Rückkehr freilich um so schwerer machen.
    Aber alles paßte zusammen. Wüstenvölker. Nomaden in Zelten. Rinder und Kamele. Menschen von kleinerem Wuchs als jene im zwanzigsten Jahrhundert. Vorsintflutliche Zeiten.
    Er stützte den Kopf auf die Hände. Ihn schwindelte.
    Higgaion schreckte auf, Sandy erschrak. Aus dem Zelt kam Gebrüll. Erst klang es wie zorniges Schreien, dann wie haltloses Lachen. Und dann wurde es schlagartig still, totenstill.
    Sandy hörte sein Herz klopfen. Higgaion breitete angstvoll die Ohren aus. »Sie werden einander doch nichts tun?« flüsterte Sandy. Das Mammut schaute ihn aus großen, fragenden Augen an.
    Die Zeltklappe flog auf. Lamech und Noah torkelten heraus. Sie torkelten, denn sie hielten einander dabei umarmt, und über ihre Wangen rannen Tränen.
    Lamech war so erregt, daß ihm beinahe die Stimme versagte. »Dies ist mein Sohn, der mir gestorben war und nun wieder lebt. Der verloren Geglaubte und Wiedergefundene. «
    Noah drückte ihn ungestüm an sich. »Dies ist mein Vater, mein halsstarriger alter Vater. Halsstarrig sind wir beide. Wir gleichen einander aufs Haar. So wie ihr, du und der Den, einander aufs Haar gleicht.«
    »Ich freue mich für euch«, sagte Sandy. »Ich freue mich, daß ihr euch versöhnt habt.«
    »Das liegt am Den«, räumte Noah ein. »Er ließ einfach nicht locker.« Noah überlegte. »Ich hätte ihn gern in meinem Zelt behalten, aber dort ist es laut und eng. Und mein Vater will, daß der Den zu euch kommt.«
    »Das will ich auch«, sagte Sandy. »Er muß mir im Garten helfen.«
    »Laßt uns feiern!« rief Noah und reichte seinem Vater einen kleinen Weinschlauch. »Von diesem Tropfen wächst nicht viel, aber er ist der beste.«
    »Nur ein Schlückchen.« Lamech hielt den Schlauch an den Mund, schmatzte anerkennend. »Der beste, das stimmt.«
    Sandy hatte Mühe, seinen Anteil hinunterzuwürgen, ohne das Gesicht zu verziehen.
    »Sprach El in letzter Zeit auch zu dir?« fragte Lamech unvermittelt.
    »Ja.« Noah nickte. »Früher habe ich ihn stets verstanden. Jetzt machen mir seine Worte keinen Sinn. Was verkündet er dir?«
    Lamech legte Noah den Arm um die Schultern. »El sagt, das Ende sei nahe.«
    »Wessen Ende?«
    »Ich glaube, unser aller Ende«, sagte der Alte. »Es ist nicht mehr damit getan, daß wir unsere Zelte anderswo aufschlagen, wo es tiefere Brunnen und besseres Weideland gibt. Manchmal bleibt auch mir der Sinn der Botschaft verborgen. El spricht von vielen Wassern – aber hier gibt es doch weit und breit kaum Wasser.«
    Sandy schauderte. Falls Großvater Lamech nicht vorher starb, würden er und Noah und dessen Familie und etliche Tiere die einzigen sein, die der großen Flut entkommen sollten.
    Ich kenne die Geschichte bereits, dachte er, und es kam ihm irgendwie falsch vor, daß er etwas wußte, von dem Großvater Lamech und Noah nichts ahnten.
    Aber was wußte er schon? Was hatte er sich aus der Bibel gemerkt? Daß Gott den frevelnden Menschen zürnte und ihnen eine Sintflut schickte. Vorher aber gebot er Noah, eine Arche zu bauen und alle Tiere an Bord zu nehmen. Und dann regnete es und regnete, und zuletzt kam die Taube mit einem Ölzweig im Schnabel zurück, und das Schiff landete auf dem Berg Ararat. Keine besondere Geschichte – wenn man nicht auf einmal selbst dazugehörte.
    Gehörte Großvater Lamech dazu? Sandy konnte sich nicht erinnern.
    »… Mein Großvater Enoch zählte dreihundert und sechzig und fünf Jahre, und dann ward er nicht mehr gesehen.«
    Sandy hatte dem Gespräch der beiden Männer nur mit halbem Ohr zugehört, jetzt horchte er

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