Die große Flut
auf. »Wie meinst du das: ›Er ward nicht mehr gesehen‹?«
Großvater Lamech sagte: »Er wandelte mit El. Er hatte ein gutes Herz. Und El nahm ihn hinweg.«
Das klang verrückt. »El nahm ihn hinweg? Wie?«
»Ich war damals noch ein kleiner Junge«, sagte Lamech. »Mein Großvater Enoch ging durch den Zitronenhain – ich kann dir den Hain morgen zeigen -, und El war bei ihm, und dann waren sie beide verschwunden.«
»Ist es bei euch üblich, daß jemand plötzlich verschwindet?«
Lamech lachte. »Ach, mein Lieber, es ist ganz und gar ungewöhnlich. Aber mein Großvater Enoch war ja auch ein
ganz ungewöhnlicher Mensch. Schon als junger Mann wandte er sich von uns ab und El zu. Er war damals erst dreihundert und sechzig und fünf Jahre alt.«
»Dreihundertfünfundsechzig… das entspricht exakt einem Sonnenjahr«, sagte Sandy.
»Einem – was?«
»Einem Sonnenjahr. Und in dreihundertfünfundsechzig Tagen umkreisen wir einmal die Sonne.«
»Unsinn«, widersprach Noah. »Nicht wir umkreisen die Sonne. Sie umkreist uns.«
»Ach ja?« sagte Sandy. »Nun gut. Meinetwegen.«
Lamech tätschelte ihm besänftigend das Knie. »Vielleicht ist dort, woher du kommst, alles ein bißchen anders. Kennst du El?«
»Hm, ja und nein. Wir sagen Gott zu ihm.«
»Zu mir spricht er manchmal«, sagte Lamech. »Aber er wandelt nie mit mir in der Kühle des Abends, so wie er dies mit Enoch tat. Wie ein Freund mit dem Freunde geht.«
»Was ist mit deinem Großvater Enoch geschehen?«
Lamech nickte wiederholt, als sei dies die Antwort. »El nahm ihn hinweg. Mehr brauche ich nicht zu wissen.«
»Vater«, sagte Noah, »du sprichst häufiger mit El als jeder andere.«
»Weil meine Jahre reiften. Es war nicht immer so. Und ich bin wahrhaft froh, daß du zu mir kamst, ehe ich sterbe.«
»Du mußt noch lange nicht sterben!« rief Noah. »Du wirst so alt werden wie unser Vorvater Methuselach.«
»Nein, mein Sohn.« Lamech faßte Noah fester um die Schultern. »Meine Zeit ist bald um.«
»Vielleicht nimmt dich El mit sich, so wie er Großvater Enoch mit sich nahm.«
Lamech lachte. »Nein, mein Sohn. Das Maß meiner Jahre ist voll, und nun, da du gekommen bist, bin ich bereit zu sterben. El muß mich nicht zu sich nehmen.«
Sandy betrachtete die beiden alten Männer, die einander umarmten und zugleich weinten und lachten. Es war also anzunehmen, daß Großvater Lamech, den er mittlerweile liebgewonnen hatte, noch vor der großen Flut sterben würde. Wie bald? Und wie bald würde die Flut kommen?
Und was wird mit Yalith geschehen? fiel ihm plötzlich ein. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß ihr Name in der Geschichte erwähnt wurde.
Und was geschieht mit uns? Was geschieht mit uns, wenn die Sintflut kommt?
Die Seraphim
S andy schlief auch in dieser Nacht auf Adnarels Mantel. Er fragte sich, ob Adnarel wußte, daß die Flut kommen und fast alles Leben auf der Erde zerstören würde.
Sein Arm schloß sich fester um Higgaion, den er an sich gedrückt hielt, wie seinerzeit als kleiner Junge seinen Plüschteddy. Er kraulte das Mammut hinter dem Ohr. Ertastete das harte Kügelchen, das sich darin festgesetzt hatte, den Skarabäus. Fühlte sich geborgen.
Am Morgen kam Adnarel in seiner Seraph-Gestalt.
Sandy sagte: »Ich habe nachgedacht.«
Adnarel lächelte. »Manchmal ist das gut. Manchmal nicht.«
»Dennys und ich stecken mitten in der Geschichte von der Sintflut, was?«
Adnarel musterte ihn aus azurblauen Augen. »Das könnte wohl sein.«
»Wie kommen wir rechtzeitig wieder nach Hause?«
Adnarel zuckte die goldenen Flügel. »Vielleicht so, wie ihr hergekommen seid?«
»Ich weiß nicht, wie das geschehen soll. Da müßte ich erst Dennys fragen.«
»Er macht sich bald auf den Weg. Sobald er stark genug ist.« »Könntest du ihm nicht ein Einhorn herbeidenken?«
»Das wäre möglich.«
»Andererseits…« Sandy runzelte die Stirn. »Als uns die Einhörner in die Oase brachten, löste sich das von Dennys auf. Und er mit ihm.«
»Sei unbesorgt«, sagte Adnarel. »Sollte das noch einmal geschehen, denken wir uns eben das Einhorn in Lamechs Zelt, und es brächte Dennys wieder mit.«
»Und das geht schneller als in herkömmlicher Zeit?«
»Gewiß.«
»Uff. Das muß ich unserem Vater erzählen. Daran forscht er nämlich: an der Aufhebung der zeitlichen Beschränkung bei der Überwindung von großen Entfernungen. Er nennt das Tessern.«
Adnarel nickte. »Das ist ein durchaus denkbarer Weg. Euer Vater ist auf der
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