Die große Flut
gut geht.«
»Und wie heißt du?« fragte Sandy.
»Tiglah. Ich bin Anahs Schwester.«
»Wer ist Anah?«
»Harns Frau. Noahs Schwiegertochter. Und ich bin Mahlahs Freundin. Kennst du Mahlah?«
»Nein.«
»Mahlah ist Noahs zweitjüngste Tochter. Die jüngste heißt Yalith. Mahlah ist aber die hübscheste von allen. Wir gaben Yalith und O-holi-bamah die heilenden Salben für deinen Bruder. Ach, ist das alles kompliziert! Ich war ehrlich überrascht, dich hier zu finden, statt bei Noah. Und jetzt bist du gar nicht du – ich meine, nicht der, der mitten in der Nacht im Zelt meines Vaters auftauchte. Riesen, die einander gleichen! Und ohne Flügel!«
Sandy seufzte. »Bei uns daheim hält uns keiner für Riesen. Wir wachsen sogar noch.«
»Eure Haut ist nicht so hell wie die der Nephilim, und ihr habt keine Flügel, aber ihr seid so groß wie sie. Und auf andere Weise schön.« Sie streckte den Arm aus und streichelte seine Wangen. Dann rückte sie näher, neigte sich ihm zu, und Sandy war halb fasziniert, halb abgestoßen von der seltsamen Mischung aus Schweißgeruch und Parfümduft, der von ihr ausging. Sie hatte sich etwas Rotes auf die Lippen und Backenknochen gerieben; es sah aus wie Beerensaft.
Plötzlich streifte sie seinen Mund mit einem Kuß.
»He!« protestierte Sandy.
»Weißt du, daß du süß bist?« schnurrte sie. »Richtig süß. Und noch sehr jung, wie?«
»Wir sind Teenager«, sagte Sandy steif.
»Was ist das?«
»Nun… eben Teenager.«
Sie schüttelte den Kopf. »Die Nephilim sind alterslos. Sie waren immer schon da. Und sie wissen alles.«
Sandy seufzte. »Was beweist, daß ich keiner bin.«
Wieder ihre Lippen auf seinem Mund. Sie waren warm und schmeckten nach Früchten.
Ein Vogelruf durchschnitt den Himmel. Der Schatten zweier mächtiger Schwingen, das Klatschen der Flügel, das Scharren der krallenbewehrten Beine, als der Greif landete. Ein böses Krächzen, das wie »Nein, nein, nein!« klang. Und, unmißverständlich: »Tiglah!«
Tiglah lehnte sich gegen den Stamm einer Palme, hob die Arme über den Kopf, stellte ihren Körper zur Schau. »Verschwinde, Greif. Der junge Riese gefällt mir, und wie du merkst, gefalle auch ich ihm.«
Der Greif stieß seinen Adlerschrei aus, stellte sich zwischen Tiglah und Sandy, sperrte den Schnabel auf, krächzte: »Geh, geh, geh!«
»Nein, nein, nein!« äffte Tiglah die Stimme nach. »Der junge Riese mag es, daß ich mich um ihn kümmere. Den anderen, der genauso aussieht, bemuttern Yalith und Noahs Weiberschar. Sag selbst, Sandy, steht dir denn nicht auch zu, von einer Frau verzärtelt zu werden?«
Ehe Sandy antworten konnte, hatte der Greif Tiglah sanft, aber nachdrücklich zum Weg abgedrängt.
»Tu mir bloß nicht weh!« rief sie böse. »Rofocal ist mein Freund!«
Der Greif ließ einen Laut hören, der dem Sirren einer Stechmücke glich. Tiglah trat ihrer Widersacherin in den Leib, dort, wo Adler und Löwe ineinander übergingen. Der Löwenschwanz zuckte irritiert, aber nun bugsierte der Greif Sandy unnachgiebig auf das Zelt zu.
»Ich möchte aber nicht hinein!« Sandy hing immer noch an Tiglahs grünen Augen.
Ihre Stimme lockte. »Komm doch mit mir! Komm mit mir in eines der Badehäuser!«
»Badehäuser? Mit Wasser?« rief Sandy erfreut. Seine Hände waren von der Gartenarbeit schmutzig. Die schwarzen Ränder unter den Fingernägeln ließen sich nicht mit Sand säubern.
»Wasser? Wozu brauchst du Wasser?« fragte sie.
»Zum Baden natürlich.«
»Du lieber Himmel!« Sie war ernsthaft erschrocken. »Wie ungesund! Nein, wir baden, indem wir uns mit Öl salben und alle schlimmen Gerüche mit Parfüm überdecken.« Sie kicherte. »Mit Wasser baden! Wer hat so etwas schon gehört?«
Der Greif stieß Sandy unbeirrt weiter auf das Zelt zu. Sandy wußte nicht recht, was er von Badehäusern halten sollte, in denen es kein Wasser gab. Und was es mit Tiglah auf sich hatte. Wenn er sie anschaute, spürte er ein seltsames, angenehmes Prickeln. Und sie hatte gesagt, daß sich Yalith um Dennys kümmerte.
Der Greif schubste Sandy ins Zelt.
Großvater Lamech erwartete ihn bereits, hielt ihm die volle Suppenschüssel hin. Er wirkte zerbrechlicher als sonst, und uralt. Seine Hände zitterten. Er sagte: »Sand, mein Lieber, du kommst spät.«
»Tut mir leid, Großvater Lamech. Ich unterhielt mich mit einem Mädchen.«
»Mit welchem Mädchen?« fragte Lamech mißtrauisch.
»Sie heißt Tiglah und ist die Schwester von Noahs
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