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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schoemel
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gehabt, seiner Mutter in grobem und entschiedenem Ton zu sagen, sie möge endlich damit aufhören, ihm ihre Daumenkuppe über die Schläfe zu reiben, zumal sie ihre Handfläche in einer Weise auf sein Gesicht gelegt hatte, dass ihm die Luft immer knapper wurde. Es war eine unpassende, peinliche Zärtlichkeit, mit der sie sich an ihren Sohn heranschlich, bloß um wieder etwas mehr Kontrollmacht über ihn zu gewinnen, indem sie ihn nämlich erstickte – denn dies war ganz zweifellos ihre geheime Absicht.
    Dies waren Glabrechts Traumgedanken gewesen. Seine Haut brannte von den ungewollten Berührungen. Auch hatte er geschrien, weil das grobe, sonnenverwitterte Gesicht über ihm gar nicht aussah wie dasjenige seiner Mutter und weil er es gruselig fand, dass sie sich derart verändert hatte. Aber dass es sich um die Mutter handelte, daran hatte es keinen Zweifel gegeben.
    Als er erwachte, war es seine eigene rechte Hand, die er auf seinem Gesicht liegen hatte, seine eigene Daumenkuppe, die offenbar seine Schläfe gestreichelt hatte. Sofort war ihm der Grund für die Irritation klar: Vergangenen Freitag hatte er seinen vierzehntäglichen Friseurtermin wahrgenommen. Die Friseurin, eine recht attraktive und gütig dreinblickende Mittvierzigerin, hatte die Kollegin vertreten, die ihn normalerweise bediente. Beim Haarewaschen massierte sie die Kopfhaut fest mit den Fingerkuppen. Das kannte Glabrecht nicht in dieser Intensität, und er hatte einen starken Widerwillen sowie einen Fluchtimpuls zu überwinden, ehe er sich zugestand, die Prozedur als angenehm empfinden zu dürfen.
    Das Zolpidem , das er nach dem Albtraum nahm, um sofort weiterschlafen zu können, wirkte in dieser Nacht paradox. Glabrecht hyperventilierte, er hatte Herzrasen und schlief keine Minute mehr. Irgendwann ging er in sein Arbeitszimmer und fuhr die Vorsehung hoch. Sein Outlook zeigte inzwischen sowohl im Ordner »Posteingang« als auch im Ordner »Gesendete Nachrichten« ganze Kolonnen mit der E-Mail-Adresse von Adriana Fallhorn. Das Lesen der herbeigesehnten Mails und noch mehr das möglichst unverzügliche Schreiben der Antwort gaben Glabrechts Leben Geborgenheit, die allerdings immer nur so lange anhielt, bis das Lesen und das Schreiben vorbei waren. Danach war nichts mehr. Schon wenige Minuten nach dem Klick auf den »Senden«-Button trat erneut ein schmerzender Intimitätsunterdruck im Brustraum auf, und wenn es sich nur einrichten ließ und die Arbeit es zuließ, wurde schon bald die Vorsehung nach neuen Mails befragt. Wenn sie nicht lieferte, saß Glabrecht ein paar Sekunden mit leerem Blick und ebenso leerem Gemüt vor dem Bildschirm: »Keine neuen Nachrichten«. Dann konnte nur noch das Telefon helfen.
    Auch jetzt, am frühesten Morgen, wollte er Adriana seinen Gemütszustand mitteilen. Beides war jedoch unmöglich: erstens, den Gemütszustand in passende Worte zu kleiden, und zweitens, das Ergebnis an Adriana zu adressieren. Viel zu groß war die Entfernung zwischen ihnen. Was interessierten sie seine seltsamen und ältlichen Probleme? Allenfalls Marianne hätte ihn verstehen können. Glabrecht hatte auch die politische Not, in der er sich seit Neuestem befand, fast vollständig von Adriana ferngehalten.
    Einige Minuten später riss er sich aus seiner Panikstarre und schrieb eine Mail an Madlé. Der hatte ihm inzwischen längst die angekündigte Frage gestellt, was Adriana denn an ihm, Georg Glabrecht, besonders schätze. Glabrecht war aufgefallen, dass er die Frage nicht beantworten konnte.
    »Siehst du!«, so war das von Madlé kommentiert worden, »aber eigentlich müsstest du es genau wissen. Sie hätte es dir längst sagen müssen.«
    »Wieso fragst du denn nicht, was mir an ihr gefällt?«
    »Weil ich mit dir befreundet bin, nicht mit ihr.«
    »Lieber Madlé«, schrieb Glabrecht nun, »mir fliegt hier der gesamte Schweinejob um die Ohren. Ich bin in elender Gemütsverfassung, schrecklich müde, ich meine: universell müde. Und dann die Sache mit dieser Frau.«
    Noch während er sich schämte für diese Offenbarung, kam die Antwort von Madlé. Der saß also, genau wie Glabrecht, morgens um vier am PC. Und offenbar lauerte auch er auf Meldungen aus der Außenwelt. Wie passte das zu der Ruhe, die er ausstrahlte?
    »Glabrecht, das ist normal. Wir kommen da nicht raus. Wir müssen den Trübsinn lernen. Die Jahre gehen dahin, der Geist sträubt sich, das Fleisch, das wir mit großem Aufwand am Leben halten, verrottet. Du bist fünfzig, oder?

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