Die große Verschwendung
Attitüden, wie er sie in den Charakterbildern der meisten Zeitgenossen entdeckte. Von ihrer kleinen Wanderung im Wald hatte er sich von Adriana weitere Manifestationen jener Durchlässigkeit für das Elementare erhofft, also gebieterische, unwiderlegbare Liebesgründe. Er wartete auf schwebende Sätze, Bemerkungen von reiner, frisch entstandener Andacht, nah an der Musik, nah an der Erlösung, mit schönen Rätseln, deren Zauber kein Exeget enthüllen konnte, auf kleine Gesten und Bewegungen, deren Sinn einzig jemand wie er, Georg Glabrecht, erahnen konnte: Alles sollte in vollendeter Weise allein von Adriana stammen.
»Weißt du«, sagte er, als sie nebeneinander her gingen, und er lachte dabei, als sei er stolz auf diese irrwitzige Spezialität seines Charakters, »wenn ich allein spazieren gehe – ich spreche dann ununterbrochen mit mir selbst, auch laut, wenn es hoffentlich niemand hört außer den Bäumen im Wald. Genauer gesagt, ich verlagere mich in etwas, das neben mir hergeht und in dem ich auf irgendeine Weise selbst vorhanden bin. Und ich habe mich beobachtet, dass ich dabei sogar manchmal den Kopf zur Seite wende, so wie ich das jetzt mit dir tue.«
Sie ging rechts von ihm. Bislang gingen sie stets in dieser Anordnung: Glabrecht links, Adriana rechts.
»Diese Bewegung, nämlich den Kopf zur Seite zu drehen und etwas zu denken oder zu sagen, das gerade in mir aufsteigt, finde ich tröstlich, wenn ich allein bin.«
»Und wie ist es jetzt?«
Adriana beugte ihren Oberkörper nach vorne und schaute Glabrecht lachend von rechts unten in die Augen, während sie beide weiter gingen.
»Ganz anders. Es gibt kein Thema, über das ich reden müsste, obwohl ich ja jetzt die Gelegenheit hätte, es mit dir zu tun, nicht bloß mit mir selbst. Woran liegt das nur?«
Es passierte bei Glabrecht dann etwas Ähnliches wie manchmal in Spielfilmen, wenn das entscheidende Glücksereignis oder die Katastrophe eintreten: Eine extreme Zeitlupe war eingestellt, und gleichzeitig verschwamm der Hintergrund. Der Brennpunkt seiner Augen lag exakt auf Adrianas Gesicht, weil die Präzision des Geschehens nur dort vollkommen war. Das Leben sollte wohl stehenbleiben an dieser Stelle, nichts Zukünftiges sollte herankommen.
Schließlich erreichten sie den Felsen, die Stelle am Abgrund, von der Adriana gesprochen hatte. Von hier aus konnte der Blick in einer Weise hinunter auf einen kleinen Bach fallen, er konnte das Tal derart entlang fahren, als schwebe man genau oberhalb des Wassers. Das hier, sagte Adriana, sei der Lieblingsort ihrer Mutter, den sie als Mädchen kennen gelernt habe, und weniges berühre sie stärker als der sich hier öffnende Ausblick.
Glabrecht stand hinter Adriana, schaute über ihre Schulter und hatte ihre Taille umfasst, während sie schweigend hinunter blickte. Ihm war plötzlich, als gebe es dieses Stillleben, das sie beide und die Landschaft bildeten, mitsamt der Furcht, die in ihm und über allem lag, nicht nur einmal, sondern mehrfach, und als wisse er nicht, welche Version die gültige war. Die Situation begann in seinem Gemüt zu wabern und zu hallen. Furchtbar unwirklich war das alles.
»Schau, ist das nicht wunderbar?«, sagte Adriana dann, indem sie ihren Kopf halb zu Glabrecht hindrehte.
»Ja«, sagte er.
Auf was hatte er gehofft? Auf einen unkonventionelleren Satz? Auf ein heiliges Geheimnis, in das er eingeweiht und das den Seelenvertrag zwischen ihnen beiden besiegeln würde? Seine Enttäuschung bemerkte er bereits in diesem Augenblick, aber dass er sie bemerkt hatte, gestand er sich erst Tage später ein. In der kommenden Nacht zeigte Adriana Lust und Hingabe. Sie habe sich erst wieder an ihn gewöhnen müssen, sagte sie. Diesen Satz hatte er schon einmal in seinem Leben gehört, aber das schob er zur Seite, vergaß alle seine Ängste, empfand Regungen, die er für Glück hielt.
10.
In der Nacht nach der Rückkehr aus Oslo starb sein Schwiegervater Klaus. Mariannes Stimme war schwer und vorwurfsvoll, als sie die Nachricht überbrachte, so, als sei Glabrecht es, der zugleich mit ihrer Ehe das Leben des Vaters zerstört hatte. Es war halb sechs. Seit Jahren war es das erste Mal, dass Marianne Glabrechts Schlafzimmertür öffnete, während er im Bett lag. Er war bereits wach, seit Stunden war er wach, schwer zerrüttet und verkatert von den zwei Flaschen Rotwein, die er, von Hamburg kommend, in sich hinein geschüttet, und vom Valium , das er um Mitternacht genommen hatte, um die Sauferei
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