Die große Volksverarsche
jedoch immens die Gefahr, an Herz-Kreislauf-Störungen und Diabetes (Typ II) zu erkranken. Andere Studien belegen unter anderem ein größeres Alzheimer-Risiko; Kinder, die exzessiv dem Fernsehprogramm frönen, neigen im Erwachsenenalter zu aggressivem, unsozialem Verhalten 13 ; und bei jungen Männern, die wöchentlich mehr als 20 Stunden vor der Glotze hängen, wurde eine deutlich verringerte Spermienkonzentration festgestellt ... Warum tun wir uns das an? Es muss wohl mit der Attraktivität des Programms zu tun haben. Hier ein Beispiel, wahllos aus dem reichhaltigen Angebot deutscher Sender gegriffen, ein ganz normaler Fernsehdienstag auf Sat.1 14 :
10.00 Patchwork Family
Dokusoap
11.00 Richterin Barbara Salesch
Gerichtsshow
12.00 Richter Alexander Hold
Gerichtsshow
13.00 Britt
Daily Talk
Sexy Mama – heute zeige ich mich halbnackt!
14.00 Kallwass greift ein!
Psychologische Beratung
15.00 Familien-Fälle
Dokusoap
16.00 Familien-Fälle
Dokusoap
17.00 Hilfe – Ich bin pleite! Letzte Rettung Pfandleiher
Reality-Show
17.30 Schicksale – und plötzlich ist alles anders
Dokusoap
Hilfe, meine Tochter liebt einen Türken
18.00 Patchwork Family
Dokusoap
19.00 K 11 – Kommissare im Einsatz
Ermittlersoap
Tagsüber sind die sogenannten Dokusoaps eindeutig das Format Nr. 1, nicht nur bei Sat.1. Auch die anderen großen privaten
Fernsehsender wie RTL, VOX und RTL II warten kräftig auf mit »Realitätsunterhaltung«, einer Mutation der guten alten Fernsehdokumentation. Exotische Länder, drollige Tierarten oder historische Ereignisse, das sind die Themen, denen sich die Macher von Dokumentarfilmen üblicherweise widmen. Inzwischen haben die Fernsehmacher aber auch den »Alltag« als zugkräftiges und zudem höchst preiswertes Sujet entdeckt. Das Schlüsselloch-Fernsehen, das dem Zuschauer den Eindruck vermittelt, »ganz nah dran« zu sein und dem »echten Leben« zugucken zu dürfen: der streitenden Familie, dem flirtenden Bauern, der dicken Dora auf Diät, dem fiesen Nachbarn ... Gerichts- und Personal-Help-Shows mit Super Nannys und Money Doctors, Daily Talks, Dokusoaps und Dating-Formate schossen plötzlich wie Pilze aus dem Boden und in die privaten Fernsehprogramme. »Wir leisten hier Lebenshilfe für den Zuschauer«, sagte mir stolz ein Manager der UFA-Gruppe. Bei VOX zum Beispiel nimmt die Realitätsunterhaltung bereits 45 Prozent der gesamten redaktionellen Sendezeit ein. 15 Die Uridee der TV-Dokumentation – Fernsehmensch geht zur Realität und bildet diese zuschauergerecht ab – wird von den Reality-Formaten neu ausgelegt: Das Fernsehen arrangiert eine Realität, die es dokumentiert. Ein hässliches Haus oder Mädchen, das schön gemacht wird. Ein Ehestreit, der erst geschürt und dann geschlichtet wird. Ein Teenager, der von Ersatzeltern erzogen wird. Typische Protagonisten in dieser als Realität verkauften Scheinwelt: der Versager und der Sieger. Hauptsache vereinfacht. Die wahre Welt ist ja schon komplex und kompliziert genug. Mittlerweile haben die Dokusoaps aber noch einen weiteren Ableger: die Scripted-Reality-Formate. Das Einzige, was hier noch Realität ist, ist die erklärte Absicht, die erfundenen Geschichten möglichst authentisch zu erzählen. Hinter dieser Entwicklung zum vollgescripteten
Format steht, wie sollte es anderes sein, der schnöde Mammon; denn je mehr Drehbuch, desto mehr Sicherheit und Kostenkontrolle bei der Produktion.
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Eine Übersicht über aktuell produzierte Scripted-Reality-Formate finden Sie bei Wikipedia unter »Liste deutscher Scripted-Reality-Sendungen«.
Aktuelles Beispiel: die RTL II-Billigproduktion »Berlin – Tag & Nacht«. »filmpool«-Produzent Felix Wesseler zufolge handelt es sich bei »Berlin – Tag & Nacht« um eine Sendung mit dokuhaftem Look, mit Laiendarstellern, sehr direkter Kameraführung und einem hohen Authentizitätsanspruch, die eine große Nähe zu ihren Protagonisten und zur Lebensrealität des Zuschauers schaffen will. 16 Inhalt dieser Daily Soap: Mitglieder und Freunde einer Berliner Wohngemeinschaft zoffen und vertragen, verlieben und entlieben sich, haben Erfolge und Misserfolge, tagein, nachtaus. Wie ihre Hauptzielgruppe, die 14- bis 19-Jährigen. Klar wissen die alle, dass das mit der WG und Berlin und so voll krass nur Fake ist, Alter ... aber die Pizza suchen sie dem WG-Ole doch aus, wenn der fragt, welche er sich denn bestellen soll. 2,3 Millionen (Facebook-)Freunde haben die gescripteten WGler in der realen
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