Die große Volksverarsche
Welt. 1,2 Millionen von ihnen verfolgen täglich um 19 Uhr die Tränen und Tiraden auf RTL II. Und geben parallel dazu ihre Kommentare auf Facebook ab. Damit hat sich RTL II sogar zum »Social TV«-Quotenkönig 2012 gemausert und angezapft, wovon viele Sender noch träumen: den
direkten Draht zum Zuschauer, der zu allem, jedem und jeder seinen geposteten Senf abgibt und sich dabei in dem wohligen (und von den Machern bewusst herbeimanipulierten) Gefühl der Authentizität suhlt. Das »Als-ob« wird Realität! Hätten wir damals Bobby Ewing (»Dallas«) mitgeteilt, dass wir ihm für das Gespräch mit seinem blöden Bruder die Daumen drücken, oder Jill Munroe (»Drei Engel für Charlie«) wissen lassen, dass sie uns in dem roten Kleid viel besser gefallen hat, oder Schimanski geraten, doch mal seinen Schnauzer abzurasieren? Eine irritierende Vorstellung. Mit Blick auf die Rezeption von Scripted-Reality-TV fragen die Medienwissenschaftler Hans-Jürgen Weiß und Annabelle Ahrens deshalb auch völlig zu Recht: »Wenn die von der Formatlogik her ja zweifellos intendierte Täuschung erfolgreich ist, ist sie dann für die Getäuschten folgenreich?« 17 Auszuschließen ist das nicht. Denn einer Studie von 2012 18 zufolge nehmen vor allem Kinder und Jugendliche das Gezeigte oft als bare Münze, so dass sie Gefahr laufen, sich an den »abgefilmten« Weltbildern, Denkmustern und Botschaften zu orientieren. Nun werden sich die Produzenten sicher nicht so leicht von mahnenden Medienwissenschaftlern ins Handwerk und schon gar nicht in den Umsatz pfuschen lassen.
Aber mediale Verarsche lässt sich noch toppen – mit Managed Reality, die vor allem bei Talentshows zum Einsatz kommt. Wer glaubt, dass es bei den diversen Gesangs-, Model- oder Tanzwettbewerben um ehrliche Konkurrenz mit offenem Ausgang geht, irrt leider. Denn für die Quote, für vermeintlich große emotionale Momente und natürlich um möglichst viele (zahlende) Anrufer zu rekrutieren, wird die Realität ein bisschen gemanaged, wie mir der bereits erwähnte UFA-Manager völlig sachlich erklärte. Das ist etwa so, als würden in Bundesligaspielen vorher besonders spannende Szenen eingeplant,
was ich trotz des Schiedsrichter-Skandals von 2005 nicht hoffen möchte.
Nicht weniger frech ist es natürlich, wenn ein Tierfilmer für das ZDF eine Doku über Wölfe dreht, in Wirklichkeit aber gezüchtete tschechische Wolfshunde zeigt, die er dem Zuschauer als wilde, geheimnisvolle Tiere verkauft. Derselbe Mann flüsterte übrigens auch höchst dramatisch in die Kamera, er befinde sich in Lebensgefahr, so nahe sei er gerade dem größten aller Landraubtiere, dem Eisbär. Dass er von einer kanadischen Luxuslodge aus filmte, in der wohlhabende Touristen wohnen, um Eisbären direkt von ihrer Terrasse aus beobachten und fotografieren zu können, verschwieg er dem Zuschauer ebenso wie die Tatsache, dass die vermeintlich wilden Tiere mit Robbenfett oder Fischkonserven angefüttert wurden.
Das alles wäre legitim, wenn Filmemacher bzw. die Sender (wie z. B. bei der englischen BBC üblich) den Tierfilmfan im Vor- oder Abspann darüber informieren würden, dass es sich nicht um Tiere in freier Wildbahn handelt, sondern um gängige Tricks der Doku-Branche.
Da man Sender und Medien in Bezug auf ihre Wahrheitsliebe weder zensieren kann noch soll, bleibt nur, die Zuschauer, vor allem aber die Teens mit möglichst viel Medienkompetenz auszustatten, damit sie Pseudo-Dokus und -Talentshows als solche erkennen und einordnen können. So könnte man ihnen zum Beispiel einen Auszug aus einem realen (!) Drehplan für eine Kuppelshow vorlegen ... 19
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KONSUMENTEN-NAVI
Seit 2011 wird über eine Kennzeichnungspflicht für gescriptete Formate im Dokulook diskutiert. Das hat immerhin dazu geführt, dass die meisten schon heute eine entsprechende Formulierung im Abspann aufblitzen lassen: »Sendung im Stil einer Dokumentation«, »Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden« oder »Nach einer wahren Geschichte«.
Und wie steht es um jene Menschen, die der süßen Verlockung des Warhol’schen 15-Minuten-Weltruhms erliegen? Um jene also, die sich fürs Reality-TV casten lassen? Die bekommen erst einmal einen Knebel-, pardon Kandidatenvertrag verpasst. Hier ein Beispiel – allerdings in Auszügen, denn der gesamte Vertrag umfasst sage und schreibe 13 eng bedruckte Seiten.
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Es ist schon erstaunlich, wie viele Menschen bereit sind, einen derartigen Vertrag, mit dem sie ihre
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