Die große Volksverarsche
Persönlichkeitsrechte an der Garderobe abgeben, zu unterschreiben. Doch zum einen sind 700 Euro für etliche Menschen eine Menge Geld – für den Sender hingegen Peanuts und kaum mehr, als eine gemietete Katze oder Kuh für einen Filmauftritt als »Gage« erhält –, zum anderen ist
die Aussicht, einmal im Fernsehen und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein, offenbar so verlockend, dass der Sender nur mit dem Finger zu schnippen braucht – und schon stehen die potenziellen Laiendarsteller (»Kandidaten«) Schlange ... Mit einem solchen Vertrag haben die Produzenten und Redakteure einen Freifahrtschein in der Schublade. Nun können sie schalten und walten, schneiden und weglassen, wie es ihnen in den Kram passt. Hauptsache, das Endergebnis ist – im wahrsten Sinne des Wortes – auf den Zuschauer zugeschnitten. Diese nachträgliche Schnippelei wie in einem x-beliebigen Spielfilm ist die eigentliche Verarsche. Da werden zum Beispiel Fragen und Antworten der Kandidatinnen und Kandidaten bunt gemischt, bis die gewünschte Wirkung erreicht ist. Ob Kandidatin Sandy und Kandidat René dabei ziemlich blöd aussehen, ist der Redaktion bestenfalls schnurzpiepegal. Oder soll die burschikose Bäuerin Birgit bei der nachgestellten Szene am Bahnhof zwecks Romantik vielleicht doch lieber eine Träne weinen, weil ihr Liebster den Hof verlässt? Kein Problem: Da war doch die Sequenz, als die Bäuerin so herzerweichend um ihr verstorbenes Pferd trauerte. Und schwuppdiwuppschnippschnapp weint die Verlassene beim Abschied die gewünschte Träne ... natürlich untermalt von romantischer Musik. Und dann wäre da ja noch die Berliner Boutique, die ein bisschen Werbung vermutlich gut gebrauchen kann. Schon geht’s los. Der Boutique-Besitzer und seine Frau kennen vielleicht den Redakteur von »mieten, kaufen, wohnen« (VOX); der sagt sich womöglich: ›Boutique? Schickes Ambiente? Ganz umsonst? Prima!‹ Jetzt noch schnell die passende Geschichte dazu: Boutique-Ehepaar möchte aufs Land ziehen, weshalb der Makler für sie ein adäquates Domizil in der Uckermark finden soll ... Als die erfolgreiche Suche quer durch die beschauliche Uckermark schließlich wirkungsvoll im Kasten und die überregionale Boutique-Werbung
perfekt ist, spielt es auch keine Rolle mehr, ob das Boutique-Ehepaar jemals vorhatte, aufs Land zu ziehen, oder alles nur ein typischer Reality-TV-Fake war ...
Werbung ist aber nicht nur für Berliner Boutiquen wichtig. Auch die Fernsehsender sehen zu, dass sie möglichst viele, möglichst zahlungswillige Werbetreibende an Land ziehen; die privaten ebenso wie die öffentlich-rechtlichen, obwohl diese nur vor 20 Uhr Werbung senden dürfen. Für das werbefreie Hauptabendprogramm zahlt der Zuschauer schließlich seine üppigen Gebühren. Je attraktiver der Werbeplatz, desto höher natürlich der Preis je Werbesekunde. Ein 30-Sekunden-Spot bei »Wer wird Millionär« kostet zum Beispiel um die 60.000 Euro. Wie attraktiv ein Werbeplatz ist, richtet sich vor allem danach, wie viele Personen der anvisierten Zielgruppe für das Produkt zusehen. Insofern wäre ein Spot für Clearasil während eines Heinz-Rühmann-Films wenig zielführend, der coole Gillette-Typ kurz vor dem Formel-1-Start aber trifft da schon eher den Werbenerv der Zuschauer. Zielgruppenkontakt ist das eine, die Einschaltquote das andere Gewicht, das Sender und Werbetreibende auf die Goldwaage legen. Kaum eine statistische Zahl wird von so vielen Interessengruppen kontrolliert wie die Quote; denn die ist bares Geld wert: Etwa acht Milliarden Euro fließen jährlich in den TV-Werbemarkt. Zuständig für die Messung ist die (europäische) Gesellschaft für Konsumforschung (GfK SE 20 ), eines der führenden Marktforschungsunternehmen der Welt. Die Daten über die Sehgewohnheiten von 13.000 anonymen deutschen Bürgern, die von der GfK-Fernsehforschung erhoben werden, gehen dann an die Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AfG), einem Zusammenschluss aller Konkurrenten rund ums deutsche Fernsehen: Sender und Werbewirtschaft. Hier werden die Daten verwertet.
Sie alle wollen ganz genau wissen, was und wann wer der 70 Millionen potenziellen Zuschauer und Konsumenten über 14 Jahre glotzt. Die tägliche Quotenjagd setzt die Sender extrem unter Druck. Insofern hat der Fernsehkonsument mit seiner Fernbedienung ein gewaltiges Druckmittel in der Hand: Was er nicht anschaltet, wird früher oder später aussortiert.
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