Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
was hinter mir ist. Dabei weiß ich das schon längst.
Ein schmaler Grasstreifen, kaum breiter als ich, fällt zu den Klippen hin ab und danach kommt nichts außer Felsen, Meer und jede Menge Schwierigkeiten.
Die Brille des Doktors ist vom Regen verschmiert. Er macht einen Schritt auf mich zu, in der Hand hält er eine Spritze.
»Nur ein kleiner P-Piks!«, ruft er, damit ich ihn in dem stürmischen Wind auch ja verstehe. »Nur ein kleiner P-Piks und wir können diese, äh, unglückselige Episode hinter uns lassen!«
Das war’s also, denke ich, während ich vorsichtig aufstehe. Es gibt nur einen Fluchtweg und der führt steil nach unten in die Tiefe.
Wie aus dem Nichts taucht der General auf. Er krabbelt über meinen Arm und verschwindet in meiner Brusttasche.
* Meinst du etwa, wir hätten das nicht bis ins letzte Detail geplant? *, schnarrt er in meinem Ohr. * Aber jetzt ist keine Zeit für Erklärungen. Spring einfach, wenn du bereit dafür bist .*
Wieder macht Doktor Fredericks einen Schritt auf mich zu.
Ich weiche zurück Richtung Klippe und strecke die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten.
»Vorsicht, junger Mann, wir wollen doch keinen, ähm, bedauerlichen Unfall riskieren.«
Mein Blick wandert zu dem regennassen Glaskreuzer namens Mentorium, der von sich kreuzenden Lichtkegeln der Suchscheinwerfer erhellt wird, und ich spüre den vom Meer aufsteigenden Gischtnebel in meinem Nacken.
* Du bestimmst den Zeitpunkt *, sagt der General. * Aber du musst uns vertrauen .*
Ich schließe die Augen und gehe noch einen Schritt zurück, dann noch einen.
»K-Kester«, sagt der Doktor. »Hör zu, ich lege die Spritze weg. Lass uns reden, ich kann dir alles erklären.« Er legt die Spritze zwischen uns auf die Erde. »B-Bitte.«
Ich muss grinsen.
Ich habe den Doktor dazu gebracht, Bitte zu sagen. Allein dafür hat es sich gelohnt.
Ich mache noch einen Schritt zurück. Als der Doktor schreiend vorschnellt, um meine Beine zu packen –
Falle ich rückwärts ins Nichts.
Kapitel 7
Ich lande weder auf den Felsen noch im Meer.
Haken fangen mich auf – bewegliche, fliegende Haken –, die Schnäbel und Klauen von hundert Tauben. Jene Tauben, die in meinem Zimmer waren, grau und weiß. Es tut ziemlich weh, denn sie verhaken sich nicht nur in meinen Kleidern, meinem durchnässten Anorak und Schal, sondern auch in meinem Haar, in meinen Fingern, ja sogar an meinen Ohren.
Anfangs sinken wir rasch in die Tiefe. Mein Gewicht macht den Tauben gewaltig zu schaffen, die eisige Gischt umsprüht schon meine Knöchel, doch dann steigen wir langsam, aber stetig nach oben. Mit kräftigen Flügelschlägen bringen sie mich weg von den Felsen, dem Meer und von Mentorium.
Wind und Wasser klatschen in mein Gesicht. Das nennt man wohl Wetter. Es ist eine Sache, es vom Fenster aus zu beobachten, es zu fühlen und zu schmecken ist etwas ganz anderes. Ich versuche mich wegzudrehen, aber es kommt von allen Seiten.
In meiner Jackentasche bewegt sich etwas, dann streckt der General den Kopf heraus.
* Sieh dir das an *, sagt er stolz.
Ich blicke zurück zu den Klippen und sehe, wie die zurückgebliebenen Kakerlaken in einem Schwarm über Doktor Fredericks und die Aufseher herfallen, wie sie aus der Erde hervorkrabbeln und Hosenbeine hinauf, wie die Männer sich winden und zappeln und schreien. Plötzlich ist mir der Blick versperrt, denn die Tauben machen eine scharfe Kehre und fliegen Richtung Norden.
* Hey! *, protestiere ich. * Das ist nicht der Weg nach Hause! *
Statt einer Antwort schlagen die Vögel noch kräftiger mit den Flügeln.
* Ich dachte, ihr bringt mich heim .*
Wieder schweigen alle, sogar die weiße Taube hält den Schnabel.
Ich drehe den Kopf, um einen letzten Blick auf die Lichter von Mentorium zu werfen, die inzwischen nur noch ein matter Schimmer am Horizont sind. Wir fliegen immer weiter nach Norden, nicht nach Süden. Wir fliegen weg von Premia. Ich fange an zu zappeln, um die Vögel in eine andere Richtung zu lenken.
* Ihr habt gesagt, ihr bringt mich von hier weg. Ich möchte nach Hause, und zwar sofort! *
* Höre auf meinen Rat, Soldat *, tadelt mich der General aus meiner Jackentasche heraus. * Hör auf, dich zu wehren, und sieh zu, dass du etwas Schlaf findest. Wir haben eine lange Reise vor uns .*
Gegen meinen Willen werden meine Lider immer schwerer. Ein Teil von mir sehnt sich nach Ruhe, aber ich gebe dem Wunsch nicht nach, und jedes Mal wenn ich fast wegdöse, schreckt mich ein beißend
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