Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
sind so zornig, in deinen Augen liegt so viel Wut .* Er hält inne, aber ich antworte nicht. * Gibt es etwas, was du mir gerne sagen möchtest?*
*Tu nicht immer so, als wärst du mein Pa. Das bist du nicht!*
*Da kannst du ganz beruhigt sein, Kester. Glaub mir, ich habe nicht die geringste Absicht, dein Vater zu sein .*
Ich trommle mit den Fäusten gegen seine Flanke.
* Du begreifst nichts – keiner von euch versteht mich!*
Inzwischen haben die Klagelieder der Tauben auch die anderen aufgeweckt. Kleiner Wolf murmelt vor sich hin, gähnt und streckt sich. Auch Polly setzt sich auf, benommen reibt sie ihre Augen und schaut sich um.
Der Hirsch beugt sich zu mir. Ich zucke zurück, einen Moment lang denke ich, er will mich aufspießen. Stattdessen stupst er mich sanft am Hals. Ein weicher, warmer Schauer überläuft mich.
Ich hasse ihn. Ich hasse ihn für das, was er gerade tut. Auf diese Tour hat er es schon einmal versucht, aber ein weiteres Mal falle ich nicht darauf herein.
* Hör auf. Lass das. Du benutzt mich als Mittel zum Zweck, sonst bin ich dir doch völlig egal .*
*Du bist mir nicht egal, Kester. Mir liegt sogar sehr viel an dir .*
»Was ist hier los?«, höre ich Pollys Stimme hinter uns.
* Dir liegt überhaupt nichts an mir. Du hast mich an einen Ort gebracht, wo ich eure Krankheit hätte bekommen können .*
*Aber du hast sie nicht bekommen* , sagt Kleiner Wolf.
* Ihr zwingt mich, euch zu helfen. Ihr drängt mich in eine Heldenrolle. Aber ich bin kein Held, ich bin nur ein Kind, das nicht sprechen kann. Mir ist das alles zu viel. Ich kann euch nicht retten. Ich schaffe es ja nicht einmal, eine einzelne Katze zu retten. Ich bin nicht derjenige, für den ihr mich haltet .*
*Du bist es* , sagt der Hirsch.
*Die Seuche wütet noch immer, sie tötet und vernichtet, und es gibt kein Gegenmittel. Ich weiß nicht einmal, ob Pa …* Ich breche mitten im Satz ab. * Was hast du gesagt?*
*Ich habe gesagt, du bist es* , wiederholt der Hirsch und sieht mir fest in die Augen.
* Ich bin was?* , frage ich argwöhnisch. Polly kommt einen Schritt näher.
* Du bist ein Held. Du hast uns geholfen, den Wächtern zu entkommen*, sagt der Hirsch, und bei diesen Worten knurrt Kleiner Wolf. *Du hast versucht, die Katze zu retten. Du hast sie und das Mädchen vor dem Mann mit dem Feuerstock beschützt. Du hast uns zur Straße der Fische und in die Freiheit geführt. Und selbst wenn du die Katze nicht vor ihrem Schicksal bewahren konntest – du hast deine Gabe genutzt, um ein Menschenleben zu retten. Ich weiß nicht, was man bei euch noch alles tun muss, um als Held zu gelten. Aber eines kann ich dir sagen, Kester Jaynes: gemessen an den Maßstäben der Tiere bist du genau das – ein Held .*
Ich starre ihn fassungslos an und frage mich, ob ich mich verhört habe. Noch nie hat jemand so etwas zu mir gesagt. Tränen schießen mir in die Augen und ich fange an zu weinen.
Zum ersten Mal seit so langer Zeit.
Ich stehe da und weine, vor den Tieren und vor Polly. Ich weine um Sidney, die wir für immer verloren haben. Ich weine um meine Ma, die ich nie mehr sehen werde. Um meinen Pa, den ich seit sechs Jahren nicht mehr gesehen habe und den ich vielleicht nicht einmal mehr wiedererkennen werde. Ich weine, weil meine ganze Welt aus den Fugen geraten ist und ich nicht weiß, ob ich das alles je wieder in Ordnung bringen kann.
Durch einen Tränenschleier hindurch blicke ich den Hirsch an. * Ich frage mich, wie ich das alles schaffen soll – bis zur Stadt ist es noch weit. Alles ist gegen uns. Dabei sind wir noch lange nicht am Ziel. Und das Virus ist einfach nicht aufzuhalten .*
Kleiner Wolf reißt mich beinahe zu Boden, als er einen Satz auf mich zumacht. Er stellt sich auf die Hinterpfoten und macht etwas absolut Ekliges – er schleckt mich ab. Er leckt mir tatsächlich die Tränen vom Gesicht.
* Ich bin der größte Held in diesem Abenteuer und überhaupt der größte Held der Welt und daran wird sich so schnell auch nichts ändern. Außerdem bist du immer noch ein Mensch und riechst komisch. Aber in einem muss ich dem Hirsch recht geben – du hast allen gezeigt, dass du der zweitgrößte Held in unserem Rudel bist .*
Der Hirsch brummt zustimmend. * Du kannst uns nicht alle retten, Kester. Du kannst nicht die ganze Welt beschützen .* Er lässt den Blick schweifen und wittert in der feuchten Luft, als würde er nach Sidney Ausschau halten. Aber sie kommt nicht zurück. * Selbst wenn du nur einige wenige von uns
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