Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Hirsch bei diesen Worten wird. Aber er muss sich keine Sorgen machen, wir brauchen niemanden, ich kann Polly auch allein helfen. Ich habe etwas bei ihr gutzumachen, weil sie Sidney verloren hat. Das ist die Pflicht eines Anführers. Die Pflicht der Großen Wildnis. Ich winke die Tauben herbei, die sich auch sofort leise auf meinen Schultern und meinem Kopf niederlassen und das Buch betrachten.
* Ja, wir kennen dieses Hohe Zuhause, wir werden es für dich suchen. Das Hohe Zuhause, das sich beugt und glänzt, es ist bekannt für seine heilende Kraft. Wir dachten schon, du würdest uns niemals fragen .*
*Ja, wir würden dich niemals danach fragen .*
Weiße Taube gesellt sich zu den anderen, die bereits in einem Halbkreis auf dem Boden sitzen und wie bei einem lustigen Tanz die Köpfe vor- und zurückruckeln. Ich sehe den Hirsch fragend an, aber der weiß längst Bescheid.
* Wir werden deinem Befehl gehorchen. Geh mit den Tauben und beschaffe das Heilmittel für den Fuß des Mädchens. Ich passe gut auf sie auf .*
*Heißt das, sie darf mit uns in die Stadt gehen?*
In der Stimme des Hirschs schwingt ein leises Lächeln mit.
* Du bist jetzt die Große Wildnis. Du verstehst allmählich die Kraft, die deine innere Stimme dir verleiht. Die Schlangen, die Tauben und jetzt ich – sieh, wie wir dir gehorchen .*
Und schon sind die Vögel weg, sie fliegen über das Ufer und das Schilf und das federweiche Gras, um die Weidenblätter zu holen. Weiße Taube ruft: * Entlang hier! Entlang hier!* Ich will ihnen folgen, aber Kleiner Wolf, der hinter uns herrennt, kommt mir in die Quere, sodass ich beinahe über ihn stolpere.
* Was machst du da?* , frage ich ihn. * Niemand hat gesagt, dass du mitkommen sollst .*
*Du bist jetzt die Große Wildnis und ich habe mich dir unterworfen wie der Hirsch. Ich muss jetzt mit dir jagen, und zwar für immer .*
Je weiter wir das Weiße Rauschen hinter uns lassen, desto stiller wird es um uns herum. Kleiner Wolf sucht sich leise seinen Weg durchs hohe Gras. Ein Gras, das umso höher wird, je weiter wir in das sumpfige Gelände vordringen und je matschiger der Boden unter unseren Füßen wird. Es ist anstrengend, wir rutschen ständig in Morastlöcher und müssen uns freistapfen. Jede Gehirnwindung, jeder Nerv in mir ist angespannt und sagt mir, dass ich jetzt die Große Wildnis bin, die führt und verantwortlich ist. Kleiner Wolf bleibt dicht an meiner Seite und springt munter über Mooskissen, die leuchtend gelb und grün aus dem Boden sprießen, und beschnüffelt hingebungsvoll jeden einzelnen Halm.
* Warum hast du deinen Vater verlassen? Ist er auch nach einer wilden Jagd in die Tiefe gestürzt?*
*Nicht direkt* , murmle ich.
* Es muss sehr schwer sein, ohne Vater zu leben. Für mich ist es schwer. Ich bin daran gewöhnt, dass er mir immer sagt, was ich tun soll. Aber ich denke, ich schlage mich wirklich gut, meinst du nicht auch?*
*Ja, du schlägst dich hervorragend .*
*Besser als jeder andere kleine Wolf ohne Vater, den du jemals getroffen hast?*
*Ja, viel besser – am allerbesten sogar .*
Erdkrumen fallen auf unsere Köpfe. Über uns ist Weiße Taube, die es irgendwie geschafft hat, sich im Schlamm schmutzig zu machen, was sie allerdings nicht daran hindert, uns von oben zur Eile anzutreiben.
* Also, warum hast du deinen Vater verlassen?* , fragt Kleiner Wolf erneut.
Ich blicke zu Boden. * Ich habe ihn nicht verlassen. Sie haben mich von ihm weggenommen .*
Kleiner Wolf ist aufrichtig entsetzt.
* Hast du ein großes Verbrechen gegen dein Rudel begangen?*
Ich beiße mir auf die Lippe und lasse gedankenverloren den Blick schweifen, ich betrachte die gummiartigen Blätter und die fahlen Blumen und das Gras, das sich im Wind wiegt – aber der Wolf schlägt mir mit der Pfote ans Bein und holt mich zurück. Sein Blick ist entschlossen, seine Miene grimmig. Ich nehme nicht an, dass die Große Wildnis Verbrechen begehen darf.
* Du bist jetzt die Große Wildnis. Du musst es mir sagen .*
*Nein, ich möchte jetzt nicht darüber sprechen .*
Ich wende mich ab und marschiere einfach voran. Ich bin die Große Wildnis. Ich kann machen, was ich will. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, ich muss niemandem etwas erklären. Wir gehen still weiter, es kommt mir vor wie Stunden; ich habe die Hände in den Hosentaschen vergraben und werde von Gedanken gequält, die ich nicht abschütteln kann.
Schließlich bricht Kleiner Wolf das Schweigen; diesmal spricht er leise, er ist gekränkt.
*
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