Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Stimme, die allen Kreaturen befehlen kann. Eine Gabe. Wenn da jemand übrig wäre, den ich rufen könnte, wenn ich nur wüsste, wie …
* Hilfe!* , schreie ich. Mehr kann ich nicht tun. * Bitte! Wenn da jemand ist, der ein Mädchen und eine Katze vor dem Weißen Rauschen bewahren kann – zeige dich jetzt!*
Das Wasser treibt Polly an den steilen Sturz, sie wird herumgewirbelt wie ein Stück Müll. Sie streckt sich, ergreift einen Ast, der zwischen den Felsen steckt, und versucht, sich daran festzuklammern, damit sie und die Katze nicht in die Tiefe gerissen werden …
Ich schließe die Augen.
Da höre ich etwas – nicht das Donnern des Wassers und auch nicht den Wind, sondern ein sirrendes, zischendes Geräusch, das blitzschnell durch das Wasser auf uns zukommt. Ein Zischen, dann eine Stimme, dann viele Stimmen. Nicht die Stimmen der Tiere bei mir an Land und auch nicht die der Vögel am Himmel. Diese Stimmen hören sich an wie ein Singen. Ein Singen unter Wasser.
* Ommmmmmmmmmmmmmmmm!*
Kleiner Wolf packt meine Hand. * Siehst du das?*
Etwas schlängelt sich an Polly heran, die sich mit letzter Kraft an dem eingeklemmten Ast festhält. Das Singen in meinem Kopf wird lauter …
* Ommmmmmmmmmmmmmmmm! Ommmmmmmmmmmmmmmmm! *
Es sieht aus, als würden dahingleitende Schnüre Wellen schlagen. Sie schnellen in Pollys Richtung, gerade als sich der Ast immer mehr lockert und schließlich nachgibt und Richtung Wasserfall trudelt. Der Singsang in meinem Kopf wird lauter.
* Schnell! Schnell! Ihr müsst schneller schwimmen! Schneller!* , rufe ich, ohne genau sagen zu können, wen ich damit meine. Aber da sehe ich sie, dicht unter der Oberfläche, im nächtlichen Licht sind sie nur schwer zu erkennen … es sind lange, sich windende Linien …
Schlangen.
Schwimmende Schlangen.
* Wasserschlangen *, sagt der Hirsch. Er sieht meinen Blick. * Hab keine Angst, sie beißen nicht .*
Weiße Gischt sprüht auf, als der Ast auf die Klippe zutreibt. Mit einem kleinen Schrei lässt Polly den Ast los und versucht, sich stattdessen an einem Felsvorsprung festzuhalten. Aber ihre Hände rutschen ab und das schäumende Wasser spült sie über die Kante.
* Polly!*, rufe ich, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht hören kann.
Ich kämpfe mich durchs Wasser, es ist mir egal, ob es mich fortreißt …
… als ich ein Dutzend langer, schlanker Tiere entdecke, die so flink aus dem Wasser schnellen, dass unsere Blicke ihnen fast nicht folgen können. Schmale, spitze Köpfe mit gelben Augen blitzen auf, ehe die Schlangen wieder untertauchen und Polly hinterherschwimmen …
Dann – nichts mehr.
Ich taumle in Richtung Ufer, ringe nach Luft. Alle sind verschwunden, die Schlangen, Polly, Sidney.
Nur das Tosen des Wasserfalls und das Pochen meines Herzens sind zu hören.
Ich habe sie verloren.
Gerade will ich wieder zu den Tieren zurückkehren, als sich am Ufer etwas bewegt.
Im Wasser sind schmale schwarze Linien zu sehen. Gelbe Augen leuchten.
Die Schlangen stemmen sich mit kräftigen Schlägen gegen die Strömung, und in dem Gewirr aus Leibern ist ein Körper, um den sie sie geschlungen haben und den sie mit sich ziehen …
Ein kleines Mädchen, das weint und zittert, aber am Leben ist.
Langsam, aber unaufhaltsam ziehen die Wasserschlangen Polly zu uns. Kleiner Wolf und ich stolpern ihnen entgegen, um zu helfen. Die Schlangen wimmeln zwischen unseren Beinen, während sie Polly wie ein Schiff in den Hafen bugsieren. Polly weint leise vor sich hin, und als ich sie in den Arm nehme, ziehen sich die Schlangen eine nach der anderen zurück.
Ich drehe mich zu ihnen um. * Ich danke euch!*
Ein pfeilspitzer Kopf erhebt sich aus dem Wasser, blitzende gelbe Augen sehen mich an.
*Ommmmm!* , sagt die Schlange. Mit einem Zucken des Kopfes taucht sie ab.
Der Singsang verklingt, und das Wasser ist wieder so ruhig, als wären sie nie aufgetaucht.
Polly atmet flach, ihre Augen sind halb geschlossen. Es kostet sie große Mühe, den Kopf zu heben und mich anzusehen. »Du hast mich gerettet«, sagt sie leise.
Plötzlich bin ich ganz verlegen. Ich finde, sie muss sich jetzt ausruhen.
Sie scheint das zu spüren und schließt die Augen. Ich beobachte sie und überlege, ob sie sich vielleicht etwas gebrochen hat, deshalb merke ich nicht sofort, dass Kleiner Wolf im Wasser steht und ins Leere schaut. Ich nehme einen kleinen Kieselstein und werfe ihn in seine Richtung, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Aber er achtet nicht darauf.
Er ist
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