Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
bestimmt sehr erschöpft. Ich kraule ihn am Kopf, damit er mich ansieht. Er blickt kurz hoch, dann starrt er weiter in die Dunkelheit. Ich stupse ihn an, aber er weicht knurrend vor mir zurück.
So leise, dass ich ihn kaum verstehe, sagt er: * Die Katze. Du hast die Katze verloren .*
Dann, ganz sachte zuerst, fängt es an zu regnen.
Kapitel 25
Im Morgengrauen werde ich von den Tauben geweckt, die auf dem Rücken des Hirschs landen und Samenkörner aus seinem Fell picken. Zuerst glaube ich, dass sie ihm einen Gefallen tun wollen, aber dann wird mir klar, dass sie auf der Suche nach Futter sind.
Der Wind hat die Regenwolken vertrieben und uns allmählich trocken geblasen, während wir geschützt hinter dem warmen Rücken des Hirschs geschlafen haben. Nicht weit entfernt stürzt das Weiße Rauschen noch immer donnernd in die felsige Tiefe. Polly liegt der Länge nach ausgestreckt über dem Hirsch. Sie hat den Kopf auf ihre Arme gelegt und schläft tief und fest. Zu unseren Füßen schnarcht Kleiner Wolf, ab und zu knurrt er leise und zuckt im Schlaf, als hätte er einen Albtraum.
Ich strecke die Hand nach Polly aus – aber dann zögere ich.
Ich habe ihre Katze nicht gerettet.
Gedankenverloren starre ich vor mich hin, erst nach einer Weile bemerke ich, dass die Tauben mit mir sprechen.
* Kester! Kester!*
* Was?* , frage ich verdrossen.
* Kester – bitte, hör zu. Wir müssen so schnell wie möglich weiter .*
Ich reibe mir die Augen und blinzle sie an.
* Welchen Sinn hat das jetzt noch? * Jedes Wort fällt mir schwer. * Wir haben Sidney verloren. Ich kann euch nicht beschützen. Ich weiß nicht einmal, ob ich euch überhaupt retten kann .*
Die Tauben sehen einander an und zucken auf Vogelart die Schulterblätter.
* Was bedeutet schon der Verlust einer einzigen Katze im Vergleich zum Letzten Wild – zu den vielen Leben, die du noch retten kannst .*
*Ja, du hast viele Leben verloren, und eine Katze .*
Diesmal bringt mich Weiße Taube nicht zum Lachen, sondern zum Explodieren.
* Ist das euer Ernst? Wie könnt ihr nur so denken?*
Meine Stimme muss im Tosen des Weißen Rauschens fast untergegangen sein, aber wie als Antwort auf meinen Wutausbruch sammeln sich die Tauben am Boden und steigen geschlossen auf. Ohne hektisches Flügelschlagen oder aufgeregtes Flattern gleiten sie durch die Luft, als würden sie vom Grund eines tiefen Sees an die Wasseroberfläche steigen. Ungefähr auf der Höhe der Baumwipfel finden sie sich zu einem Ring aus lauter kleinen Punkten zusammen. Flügelspitze an Flügelspitze schweben die Tauben weit oben, ehe sich der Kreis in Bewegung setzt und in einer langsamen Spirale nach oben schraubt. Der nun einsetzende Gesang klingt seltsam – ein lang gezogenes Wehklagen, das weit über die Straße der Fische hinweg durch den Wald erklingt und sowohl das Weiße Rauschen als auch das Pfeifen des Windes übertönt. Dann vernehme ich Worte – fremde, fantastische Worte, wie ich sie noch nie gehört habe. Ein Wort reiht sich an das andere, in einem nicht enden wollenden Refrain …
* Oh, Kiebitz, Turmfalke, Turteltaube, Kuckuck, Kernbeißer, Milan, Birkenzeisig, Zwergtaucher, Mauerschwalbe, Pieper, Braunkehlchen und Grasmücke.
Grauammer, Brachvogel, Wiesenweihe, Wasserläufer, Ringdrossel, Berghänfling, Weidenmeister und Bachstelze.
Rohrdommel, Raufußhuhn, Schnepfe, Auerhahn, Alpendohle, Wachtelkönig, Nachtschwalbe und Feldlerche …*
Jedes Wort trifft mich wie ein Stich ins Herz.
Sie klingen so traurig – und ich kann nichts dagegen tun.
Ich stütze den Kopf in die Hände.
* Kester* , sagt der Hirsch plötzlich hinter mir. Der Gesang der Tauben hat ihn anscheinend geweckt.
Ich möchte einfach nur weg, fort von ihnen allen. Ich starre ins Wasser, aber von dort blickt mir nur ein gerötetes, zorniges Gesicht entgegen – mein dämliches, verschwommenes Spiegelbild.
* Kester, schau mich an* , sagt der Hirsch, während die Tauben weiter über uns kreisen und in den Wind rufen. Seine Augen leuchten heller als sonst, er sprüht geradezu vor Energie – und das nach den Strapazen der letzten Tage.
* Die Vögel trauern, Kester. Sie singen ein Klagelied für alle, die sie verloren haben. Sie rufen die Namen derer, die vom Himmel verschwunden sind – und du, was machst du?*
Ich erinnere mich daran, was die Tauben an dem Ersten Pferch gesagt haben. Aber gerade ist mir wirklich nicht nach Singen zumute. Der Hirsch kommt zu mir, um mich wieder einmal zu belehren.
* Deine Gedanken
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