Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
retten kannst, musst du es tun. Du hast keine andere Wahl. Wir wissen, dass du ein Held bist. Wann siehst du das endlich ein und fängst an, dich auch wie einer zu benehmen? Wirst du uns anführen? Die Hilfe, die wir brauchen, werden wir nur in der Welt der Menschen finden – und das können wir nicht ohne dich .* Er hält inne, es ist das erste Mal, dass der Hirsch zögert, bevor er etwas sagt. Dann sinkt er vor mir auf die Knie.
Der große Hirsch kniet sich vor mir nieder.
* Du musst dieses Letzte Wild jetzt in deine Stadt führen. Unser Schicksal liegt in deinen Händen .* Er senkt den Kopf und fragt: * Willst du unsere Große Wildnis sein? *
Die Große Wildnis. Der Anführer seines Wilds. Der Inbegriff all dessen, was der Hirsch für mich war. Da ist er nun – kniet zu meinen Füßen und bittet mich, ihr Anführer zu werden. Und ich dachte, das könnte nur ein Hirsch.
Ich blicke mich um. Wir stehen auf einem weiten Kiesbett mit flachen Tümpeln und Pfützen. Die lockeren Kiesel, die den schlammigen Boden bedecken wie ein steiniger Teppich, werden zum Ufer hin immer weniger. Weiter vorne steigt das Gelände steil an und hinter der Böschung erstreckt sich ein Meer aus hohem Schilfgras. Ich kann nicht erkennen, was dahinterliegt. In unserem Rücken tost die Straße der Fische als reißender Strom durch das Flussbett und irgendwo jenseits der Uferbänke wartet ein Mann auf Krücken mit einem Feuerstock auf uns.
Im Geist wiederhole ich die ungewohnten Worte immer wieder – denn wenn ich diese Tiere führen will, muss ich anfangen, so zu denken wie sie.
Sie haben sich im Halbkreis um mich geschart. Meine Letzte Wildnis. Sie warten darauf, dass ich sie führe.
* Ja, Hirsch* , sage ich. * Ich will eure Große Wildnis sein .*
*Sehr gut* , antwortet der Hirsch. * Und jetzt erzähl mir alles, was du von dem Menschenmädchen über das Beerenauge erfahren hast .*
Ich will dem Hirsch gerade die Böschung hinauffolgen, als mich etwas ziemlich schmerzhaft im Gesicht trifft. Etwas Schmales, das sich anfühlt wie eine Hand. Genauer gesagt – wie Pollys Hand.
»Mich interessiert dein Abenteuer nicht mehr. Wir haben Sidney verloren, also kannst du ihr nicht mehr helfen.«
Ihr Gesicht glüht rot vor Zorn.
»Ich will meine Eltern finden. Ich will nach Hause, Kidnapper – und zwar sofort.«
Kapitel 26
Ich kann zwar nicht mit Polly sprechen, aber ich kann ihr zeigen, dass ich der neue Anführer bin. Deshalb gehe ich zu ihr und lege den Arm um sie. Sie wehrt sich, trommelt gegen meine Brust und zappelt sich frei. Ihre Wangen sind tränenüberströmt.
»Hör auf damit! Vom Umarmen allein wird auch nichts besser.«
Sie lässt sich auf das grasbewachsene Ufer fallen und lehnt sich gegen einen Felsen.
»Es ist auch ganz egal. Selbst wenn ich wollte, ich kann gar nicht mitgehen. Mein Fuß tut so weh.« Sie zuckt zusammen, als sie vorsichtig ihren geschwollenen Knöchel reibt. Ich knie mich neben sie, um zu sehen, wie schlimm die Prellung ist. Sie stöhnt laut auf und hält die Hand über den Knöchel. »Was tust du da? Rühr ihn nicht an!« Sie wischt sich die Tränen ab. »Du weißt nicht, was du tust. Warte …« Sie greift in den nassen Rucksack, der neben ihr liegt, wühlt in den durchweichten Sachen und zieht dann ihr schwarzes Notizbuch heraus, das feucht ist und sich wellt. Behutsam löst sie die einzelnen Blätter. Die gekritzelten Notizen und Zeichnungen von Pflanzen, Beeren und Samen sind verwischt und schmutzig, aber noch leserlich. Als Polly mir das Notizbuch reicht, hat sie wieder diesen überlegenen Blick. Die aufgeschlagene Seite zeigt einen schmalen Baum mit sehr vielen Blättern, das Gewicht drückt die Äste nieder und einzelne Blätter treiben im Wasser eines Flusses.
»Mit Umarmungen kannst du mir nicht helfen, wohl aber damit.«
Sie hat recht. Mit geschwollenen Knöcheln kenne ich mich wirklich nicht aus.
»Das ist eine Glanzweide. Sie heißt nicht so, weil sie leuchtet, sie ist ja ein Baum. Aber ihre Blätter sind silbrig und golden, und wenn die Sonne scheint, dann sieht es manchmal so aus, als würde der Baum wirklich glänzen. Die Blätter sind etwas ganz Besonderes, denn sie helfen gegen Prellungen.« Der Baum sieht friedvoll aus. Polly hingegen sieht elend aus. »Ich weiß leider nicht, wo man diesen Baum hier findet«, seufzt sie kläglich. »Wir müssen Hilfe holen, Kidnapper. Mein Knöchel tut weh, man ist hinter uns her – wir schaffen es nicht alleine.«
Ich merke, wie unruhig der
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