Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Halbkreis um das Feuer ab, ihr Blick ist glühender als die Flammen selbst. Sie schlägt mit der Faust gegen die flache Hand. »Sie dachten, wir sind erledigt. Sie wollten, dass wir verhungern. Aber jetzt werden wir uns rächen.«
Polly und ich erstarren, denn Mutter scheint direkt in unsere Richtung zu sehen, aber dann wandert ihr Blick weiter.
»Denn, meine Freunde, heute hat sich draußen auf den Feldern ein kleines Wunder ereignet.« Beifall brandet auf. »Was, wenn ich euch sage, dass mir der Sohn von Professor Jaynes höchstpersönlich vor die Füße gelaufen ist?« Lautes Gejohle ist zu hören. Ich mache mich noch etwas kleiner, versuche mich hinter den Leuten unsichtbar zu machen. Mutter läuft nicht mehr weiter, sondern bleibt stehen.
Man könnte eine Stecknadel fallen hören, so still ist es. Darauf hat sie die ganze Zeit hingearbeitet.
»Facto behauptet, dass es keine Tiere mehr gibt. Dass alle Tiere tot sind. Aber das ist eine Lüge.« Sie nickt bekräftigend. »Denn siehe da, plötzlich taucht der Sohn jenes Mannes, der die Verantwortung dafür trägt, zusammen mit einer Schar lebendiger, putzmunterer Tiere bei uns auf!«
Ein überschwänglicher Jubel bricht aus und der bärtige Musikant spielt eine kleine Tonleiter auf und ab. Mutter lässt die Hände sinken, was so viel heißt wie: »Genug.« Die Gespräche verstummen.
»Und nun«, verkündet sie, und der Schein der Flammen spiegelt sich hell in ihren Augen wider, »nun werden wir uns holen, was uns gehört, was uns nach all dem Warten und Hungern zusteht, nach all den langen, mageren Jahren. Wir feiern ein Festmahl!«
Die Leute fallen in einen Singsang, der anfangs noch ganz leise ist. Mutter spricht vom Essen, aber ich habe ein ungutes Gefühl im Magen. Mir ist der Appetit jedenfalls gründlich vergangen.
»Festmahl! Festmahl!«
Wir schauen uns um. Alle stimmen in den Chor ein, Männer, Frauen, Kinder. Allmählich schwellen die Rufe an.
»Festmahl! Festmahl! Festmahl!«
Immer lauter wird das Geschrei und alle Augen richten sich auf die großen Scheunen der Farm.
»Festmahl! Festmahl! Festmahl! «
Alle sind auf den Beinen, sie rufen, sie stampfen mit den Füßen, sie singen …
Vor einer der vielen Scheunen hat sich eine Gruppe von Männern in Bewegung gesetzt.
Zuerst erkenne ich nicht genau, was los ist. Sie haben etwas dabei, zerren es hinter sich her. Mutter sieht zu, macht ihnen ein Zeichen, dass sie sich beeilen sollen.
Plötzlich höre ich weder Gesänge noch Trommeln noch sonst etwas. Alles, was um mich herum passiert könnte genauso gut auf einem anderen Stern stattfinden.
Denn jetzt sehe ich, was die Männer hinter sich herziehen.
Ein vor Angst wildes Tier, das bockt und sich aufbäumt.
Polly sieht es ebenfalls.
»Oh, Kester«, ist alles, was sie sagt.
Es ist der Hirsch.
Er ist mehrfach gefesselt, hat Stricke um sein Geweih, sein Maul, um Beine und Körper. Trotzdem bäumt er sich auf, stellt sich auf die Hinterläufe, schlägt aus und brüllt. Gehalten werden die Stricke von einem dicken Mann und einem pickeligen Glatzkopf; sie können den Hirsch, der sich wehrt und die Augen verdreht, nur mit größter Mühe bändigen.
Jetzt ist die Menge völlig aus dem Häuschen, die Leute drängen nach vorn, tanzen um den Hirsch, quälen ihn mit ihren Rufen und ihrem Geschrei. Den letzten Hirsch der ganzen Welt.
Dann verstummen Gesang und Musik.
Es ist still, man hört nur das Knistern des Feuers und den Hirsch, der an den Seilen zerrt. Hin und wieder ruft der dicke Mann »Hüa« und lässt eine Peitsche knallen, und der Hirsch bäumt sich noch höher auf und scheut noch mehr. Man sieht, dass er überall Kratzer und Schrammen hat.
»Unternimm nichts. Noch nicht«, flüstert Polly.
Ich habe ohnehin keine Wahl – denn ein riesiger Arm packt mich um die Hüfte und hebt mich einfach hoch.
Bodger.
Mit einem zufriedenen Grunzen trampelt er über Abfälle und Unkraut hinweg und bahnt sich den Weg zum Feuer. Die Menschen weichen hastig vor ihm zurück. Es ist Nacht, aber ich habe das Gefühl, als würde jemand einen grellen Suchscheinwerfer auf mich richten. Ich schlage mit der Faust auf Bodger ein. Genauso gut könnte ich auf eine Betonwand eindreschen, das liefe aufs Gleiche hinaus.
Er wirft mich wie einen Sack vor Mutters Füße auf die harte Erde. Von allen Seiten kommt Beifall, als hätte er gerade ein Zauberkunststück vorgeführt. Ich zucke zurück, als Mutter mir durchs Haar fährt.
»Kein Grund, unfreundlich zu sein,
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