Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
zwei Gründen. Erstens: weil er der Letzte seiner Art ist. Wir nehmen ihn und die anderen Tiere in die Stadt mit, ob es euch nun passt oder nicht.« Polly zeigt auf mich. »Sein Vater wird ein Heilmittel für sie finden.«
Alle sind fassungslos über ihre Kühnheit. Selbst Mutter kann jetzt nicht mehr ruhig bleiben.
»Es ist mir verdammt noch mal egal, was du denkst, mein Fräulein! Ihr wollt sie zu dem Mann bringen, mit dem, wie Facto sagt, überhaupt erst alles angefangen hat? Ist das zu fassen? Außerdem, was spielt das schon für eine Rolle?« Sie versetzt dem Hirsch einen Schlag in die Seite, so als wäre er ein Stück Stein und kein lebendes, atmendes Wesen. »Letztlich sind es doch nur Tiere, mehr nicht.«
Aber genau da irrt sie sich gewaltig.
»Der zweite Grund ist der …« Polly greift in ihre Tasche und zieht etwas heraus. Etwas Kleines, Blasses – ein wächsernes, von der Reise zerdrücktes Bällchen.
Das Kiefernharz, das Polly an der Straße der Fische gesammelt hat.
Wer weiß, wofür wir es noch brauchen können – so hat sie damals gesagt.
Ihr durchdringender Blick scheint mich aufzufordern, etwas zu tun. Mutter späht misstrauisch auf das, was Polly in der Hand hält, dann schüttelt sie ärgerlich den Kopf, lässt das Messer in meiner Hand los und geht um das Feuer herum zu ihr. »Was zum Teufel – okay, ich habe jetzt genug von diesen Kindereien.«
Ihren Worten folgt zustimmendes Gemurmel, alle sind am Ende ihrer Geduld. Ich werfe dem Hirsch schnell einen Blick zu. Er verfolgt jede ihrer Bewegungen ebenso aufmerksam wie ich.
Polly. Das Mädchen, das seine Katze mit einem Gewehr beschützt hat.
Sie sieht mich an. Eindringlich. Erwartungsvoll.
Was will sie von mir? Ihr Blick verfinstert sich immer mehr. Ich komme mir vor, als hätte ich meinen Text vergessen – ohne zu wissen, dass ich überhaupt mitspiele.
Ich kann nicht klar denken, ich bin viel zu abgelenkt, weil ich Polly und Mutter beobachten muss …
Und dann – ich bin ja so dumm.
Plötzlich macht es in meinem Kopf Klick! .
Ich nicke, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich es endlich kapiert habe.
Polly wartet ab, bis Mutter ganz nahe ist, dann schnippt sie das Harz in die Luft.
Alle halten inne und blicken überrascht nach oben – Mutter, die im Begriff war, das Feuer zu umrunden, ich, der Hirsch, die Männer, die ihn festhalten. Wir alle sehen zu, wie der kleine Ball erst in die Höhe steigt, dann mitten in die Flammen fällt – und alles in die Luft fliegt.
Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodiert der Harzklumpen im Feuer. Ein schmutziger Wolkenpilz steigt in den Nachthimmel, halb verbrannte Bretter und Ölfässer wirbeln durch die Luft, schwarzer Rauch quillt auf, alles schreit, sucht Deckung, hustet und würgt.
Ich drehe mich um und durchschneide die Stricke, die den Hirsch fesseln. Er bäumt sich auf, stößt den Mann, der ihn am Zügel führt, mit einem kräftigen Tritt nieder. Da kommt Bodger durch die Rauchschwaden gestapft, er versucht die losen Stricke zu packen – und bekommt einen solchen Tritt ans Kinn, dass er zu Boden geht wie ein gefällter Baum.
Die Rauchwolken sinken nach unten, werden schwärzer und dichter. Ich halte mir den Hemdsärmel über den Mund, damit ich leichter atmen kann, und klettere auf den Rücken meines großen Freunds. Ohne zu zögern, springt der Hirsch mitten unter die Leute. Die Zuschauer stieben auseinander, sie fluchen und schreien, und in ihrem Bestreben, uns und vor allem den harten Hufen auszuweichen, fällt einer über den anderen.
Als wir die Menschenmenge durchbrechen, richtet sich mein Blick zuerst auf Polly, die auf der anderen Seite des Feuers auf uns wartet. Mutter kämpft sich gerade durch den Rauch zu ihr durch, sie wischt sich den Ruß aus den Augen, reckt sich nach ihr …
Ich drücke die Knie in die Flanken des Hirschs und feure ihn an, damit wir schneller sind als Mutter. Ich beuge mich vor und ergreife Pollys ausgestreckte Hand. Ächzend ziehe ich Polly zu mir herauf. Jetzt ist sie sicher vor Mutters Griff.
»Bleibt, wo ihr seid, verdammt noch mal!«, knurrt Mutter. »Der Hirsch gehört mir. Dein Vater hat mir die letzten Tiere weggenommen, und ich will verdammt sein, wenn ich dich …«
Polly und ich sind offenbar die Einzigen, die ihr in dem Tumult und dem Geschrei zuhören; es ist schwer, in dem Durcheinander überhaupt irgendetwas zu erkennen. Männer, Frauen, Kinder rennen kreuz und quer in alle Richtungen.
Der Hirsch achtet nicht auf die Leute,
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