Die große Zukunft des Buches
erschienen war, zu einer römischen Kolonie!
Die Vergangenheit hört nie auf, uns zu überraschen, mehr als die Gegenwart, vielleicht auch mehr als die Zukunft. Lassen Sie mich diese Erinnerung an ein plötzlich römisches Bulgarien mit einem Zitat von Karl Valentin abschließen. Er sagte: »Die Zukunft war früher auch besser.« Ihm verdanken wir auch diese äußerst kluge Bemerkung: »Es ist schon alles gesagt, nur nicht von allen.«
Wir haben jedenfalls den Moment in unserer Geschichte erreicht, da wir die Mühe des Sicherinnerns, an die guten wie an die schlechten Dinge, intelligenten Maschinenüberlassen können – intelligenten aus unserer Sicht. Michel Serres hat dieses Thema einmal in einem Interview mit Le Monde de l’Éducation angesprochen; dort sagte er, wenn wir nicht mehr imstande sind, die Mühe des Auswendiglernens auf uns zu nehmen, »dann bleibt uns nur noch die Intelligenz«.
U. E.: Sehr richtig, in einer Zeit, da die Maschinen besser rechnen als irgendwer sonst, hat es nicht mehr viel Sinn, das Einmaleins auswendig zu lernen. Gleichwohl bleibt das Problem unseres geistigen Trainings. Es ist klar, dass man mit dem Auto schneller vorankommt als zu Fuß. Trotzdem sollte man jeden Tag ein Stückchen zu Fuß gehen oder joggen, sonst rostet man ein. Sicher kennen Sie diese hübsche Science-Fiction-Geschichte, in der erzählt wird, wie in einer Gesellschaft, in der anstelle der Menschen nur noch die Maschinen denken, das Pentagon jemanden findet, der das Einmaleins noch auswendig kann. Die Militärs gelangen zu der Überzeugung, dass es sich um eine Art Genie handelt, das in Kriegszeiten oder am Tag eines weltweiten Blackouts besonders kostbar sein könnte.
Es gibt noch einen zweiten Einwand. In manchen Fällen verleiht einem die Tatsache, dass man bestimmte Dinge auswendig weiß, geistige Überlegenheit. Ich bin völlig einverstanden, wenn man sagt, dass Bildung nicht darin besteht, Napoleons genaues Todesdatum zu wissen. Es genügt zu wissen, wo man es rasch nachschlagen kann. Aber zweifellos verleiht einem alles, was man selbst weiß, und sei’s auch nur, dass Napoleons Todestag der 5. Mai 1821 war, eine gewisse intellektuelle Autonomie.
Das Problem ist nicht neu. Schon die Erfindung des Buchdrucks eröffnete die Möglichkeit, den Teil der Kultur, mit dem man sich nicht befrachten will, im »Tiefkühlfach«abzulegen, das heißt in Büchern, weshalb man nur wissen muss, wo die Information, die man gerade braucht, zu finden ist. Man delegiert also einen Teil des Gedächtnisses an die Bücher oder an Maschinen, aber es bleibt die Verpflichtung, das Beste aus diesen Werkzeugen herauszuholen. Also sein eigenes Gedächtnis fit zu halten.
J.-C. C.: Aber niemand kann bestreiten, dass wir für die Nutzung dieser hochkomplexen Maschinen, die tendenziell immer schneller veralten, ständig neue Anwendungen und Sprachen erlernen und uns einprägen müssen. Unsere Merkfähigkeit wird stark beansprucht. Mehr denn je vielleicht.
U. E.: Sicher. Wenn man seit dem Auftauchen der ersten PCs im Jahr 1983 nicht imstande war, sein elektronisches Gedächtnis ständig auf- und umzurüsten, von der Diskette zum Floppy Disc, dann zur CD und jetzt zum USB-Stick, dann hat man bestimmt mehrmals seine Daten verloren, teilweise oder ganz. Denn selbstverständlich kann heutzutage kein PC mehr die ersten Disketten lesen, die bereits zur Vorgeschichte der Informatik gehören. Ich habe verzweifelt eine erste Version meines Foucaultschen Pendels gesucht, die ich 1984 oder 1985 auf Diskette gespeichert haben muss – ohne Erfolg. Hätte ich den Roman auf der Maschine getippt, wäre das Manuskript noch da.
J.-C. C.: Vielleicht gibt es ja etwas, das nicht verschwindet, nämlich die Erinnerung an die Gefühle, die wir in den verschiedenen Augenblicken unseres Lebens empfunden haben. Die kostbare – und manchmal trügerische – Erinnerung an Gefühle und Emotionen. Die affektive Erinnerung. Wer sollte uns die nehmen wollen, und zu welchem Zweck?
U. E.: Aber dieses physiologische Gedächtnis muss Tag für Tag trainiert werden. Wäre unser Gedächtnis wie das einer Diskette, hätten wir schon mit fünfzig unseren Alzheimer. Eine der Arten, Alzheimer oder jede andere Form der Altersdemenz abzuwehren, besteht genau darin, ständig weiter zu lernen, zum Beispiel jeden Morgen ein Gedicht auswendig zu lernen. Oder jede andere Art des geistigen Trainings, auch Bilderrätsel zu lösen oder Anagramme zu bilden. Unsere
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