Die große Zukunft des Buches
Kenntnis von den Ereignissen der Vergangenheit vermitteln. Ich kann diese Frage der Vermittlung durch eine persönliche Geschichte erläutern. Der Vater meiner Frau Nahal war ein iranischer Gelehrter, neben anderen Arbeiten hat er auch eine Untersuchung über einen Buchbinder namens Al-Nadim angestellt, der im 10. Jahrhundert in Bagdad lebte. Sie wissen, dass die Iraner die Buchbinderei erfunden haben und auch den Einband mit Buchdeckel, der das Geschriebene ganz bedeckt und schützt.
Als gebildeter Buchbinder und Kalligraph interessierte sich dieser Mann so sehr für die Bücher, die er zu binden hatte, dass er sie las und zu jedem eine Inhaltsangabe verfasste. Die meisten der von ihm gebundenen Bücher sind heute verschwunden, erhalten sind nur die Zusammenfassungen des Buchbinders, sein Katalog, der Al-Fihrist heißt. Reza Tajadod, der Autor der Studie, hat nun untersucht, wie genau dieser persönliche Filter aussah, den der Buchbinder durch seine unschätzbare Arbeit anlegte, und was wir von den Büchern wissen können, die er in Händen gehabt hat und von deren Existenz wir nur durch ihn erfahren.
U. E.: Manche Skulpturen oder Gemälde der Antike kennen wir nur aus Beschreibungen, die davon gemacht worden sind und die man Ekphrasen genannt hat. Als zur Zeit Michelangelos in Rom die Statue des Laokoon wiederentdeckt wurde,konnte sie aufgrund der Beschreibungen, die Plinius der Ältere davon gegeben hatte, identifiziert werden.
J.-C. C.: Aber wenn uns heute wirklich alles und jedes zur Verfügung steht, ungefiltert, eine unbegrenzte Menge an Daten, zugänglich durch unsere Computer, was heißt da noch Gedächtnis? Welche Bedeutung hat dieser Begriff? Wenn uns ein elektronischer Diener zur Seite steht, der uns sämtliche Fragen beantwortet, auch die, die wir gar nicht formulieren können, was bleibt uns da noch zu erkennen? Wenn unsere Prothese alles, ausnahmslos alles weiß, was brauchen wir dann noch zu lernen?
U. E.: Die Kunst der Synthese.
J.-C. C.: Ja. Und das Lernen selbst. Denn Lernen muss man lernen.
U. E.: Ja, man lernt, eine Information, deren Wahrheit wir nicht überprüfen können, zu kontrollieren. Das ist natürlich ein Problem für die Lehrer. Um ihre Hausaufgaben zu machen, suchen sich Schüler und Studenten im Internet die Informationen zusammen, die sie brauchen, ohne zu wissen, ob diese Informationen wirklich richtig sind. Und wie sollten sie das auch wissen? In solchen Fällen rate ich Lehrern, ihre Schüler anlässlich einer Hausaufgabe zu folgender kleiner Übung anzuregen: Suchen Sie zu dem gestellten Thema zehn verschiedene Internetquellen und vergleichen Sie deren Inhalte. Es geht darum, angesichts der Informationsflut des Internets kritisch unterscheiden zu lernen und nicht alles für bare Münze zu nehmen.
J.-C. C.: Zur Frage des Filterns gehört auch, dass wir entscheiden müssen, was wir lesen müssen. Die Zeitungen weisen uns jede Woche auf mindestens fünfzehn Meisterwerke hin, die man »unbedingt gelesen haben muss«, und das auf sämtlichen Gebieten.
U. E.: Zu diesem Problem habe ich eine Theorie der Dezimierung formuliert. Nehmen wir die Sachbücher. Es genügt, eins von zehn Büchern zu lesen. Bei den anderen reicht ein Blick in die Bibliographie und die Fußnoten, um zu erkennen, ob die angegebenen Referenzen ernst zu nehmen sind oder nicht. Ist das Werk interessant, braucht man es nicht zu lesen, weil es mit Sicherheit besprochen, zitiert und in anderen Werken kommentiert wird, einschließlich dem, das man zu lesen beschlossen hat. Im Übrigen wird man als Universitätsprofessor mit so viel Gedrucktem überschwemmt, noch vor dessen Veröffentlichung, dass man keine Zeit mehr hat, es zu lesen, wenn es erschienen ist. Außerdem ist ein Buch bei seinem Erscheinen oft schon überholt. Ganz zu schweigen von jenen Fastfood-Büchern, die aus Anlass von Events und Veranstaltungen zusammengeschustert werden und es nicht verdienen, dass man seine Zeit darauf verschwendet.
J.-C. C.: Als ich Geschichte studierte, vor fünfzig oder fünfundfünfzig Jahren, gab man uns zu einem bestimmten Thema die Jahreszahlen an die Hand, um unser Gedächtnis zu entlasten. Wir brauchten die Daten nicht auswendig zu lernen, die außerhalb der gestellten Aufgabe ohne Interesse waren. Macht man sich nun an dieselbe Aufgabe, indem man sich auf die im Internet zusammengesuchten Auskünfte stützt, so muss man logischerweise die Verlässlichkeit der Informationen prüfen.
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