Die große Zukunft des Buches
sich bis zum Ende ihres Studiums erworben hatten, blieb für ihre gesamte weitere Berufslaufbahn gültig. Und was Sie über dieses unaufhörliche Lernen sagen, zu dem heute jeder gezwungen ist, gilt ebenso für diejenigen, von denen man sagt, sie seien »im Ruhestand«. Wie viele Menschen in fortgeschrittenem Alter mussten sich noch in die Informatik einarbeiten, die sie in ihrer aktiven Zeit nicht mehr kennenlernen konnten? Wir sind dazu verdammt, ewige Studenten zu sein, wie Trofimov im Kirschgarten . Vielleicht ist das im Grunde auch besser so. In Gesellschaften, die wir primitiv nennen, haben die Alten die Macht, weil sie es sind, die das Wissen an ihre Kinder weitergeben. Wenn die Welt in ständiger Umwälzung begriffen ist, sind es die Kinder, die ihren Eltern die Elektronik beibringen. Und deren Kinder, was werden die ihnen beibringen?
Die Namen sämtlicher Teilnehmer
der Schlacht von Waterloo auflisten
J.-P. DE T.: Sie haben die Schwierigkeit angesprochen, heute verlässliche Speichermedien zu finden für das, was aufbewahrt zu werden verdient. Aber ist es denn Aufgabe des Gedächtnisses, alles zu behalten?
U. E.: Nein, gewiss nicht. Das Gedächtnis – unser individuelles wie auch das kollektive Gedächtnis, das die Kultur ja ist – hat eine Doppelfunktion. Einerseits in der Tat, gewisse Daten zu speichern, andererseits, die Informationen, die wir nicht brauchen und die unser Gehirn nur unnötig belasten würden, dem Vergessen anheimzugeben. Eine Kultur, die das durch die Jahrhunderte überkommene Erbe nicht zu filtern versteht, ist wie eine Figur von Borges, Funes, aus der Erzählung Das unerbittliche Gedächtnis . Funes hat die Gabe, sich an alles zu erinnern. Was das genaue Gegenteil von Kultur ist. Die Kultur ist ein Friedhof von Büchern und anderen für immer verschwundenen Dingen. Heute gibt es Untersuchungen zu diesem Vorgang, der darin besteht, stillschweigend auf gewisse Details der Vergangenheit zu verzichten, sie also zu filtern, gleichzeitig aber andere Elemente dieser Kultur für die Zukunft in eine Art Gefrierschrank zu legen. Archive und Bibliotheken sind solche Tiefkühlzellen, in denen wir die Erinnerung einlagern, so dass nicht der gesamte kulturelle Raum mit dem ganzen Plunder vollgestopft wird. Wenn wir wollen, können wir in der Zukunft jederzeit darauf zurückgreifen.
Wahrscheinlich könnte ein Historiker heute die Namen sämtlicher Teilnehmer der Schlacht von Waterloo ausfindig machen, aber man wird diese Namen deswegen nicht in der Schule unterrichten und auch an der Universität nicht, weil diese Einzelheiten nicht notwendig, vielleicht sogar schädlich sind. Ein anderes Beispiel. Über Calpurnia, die letzte Frau Caesars, wissen wir alles, bis zu den Iden des März und seiner Ermordung, also dem Augenblick, in dem sie ihm davon abrät, in den Senat zu gehen, weil sie einen bösen Traum gehabt hat. Nach Caesars Tod wissen wir nichts mehr von ihr. Sie verschwindet aus unserem Gedächtnis. Warum? Weil Informationen über sie nicht mehr nützlich sind. Und nicht, weil sie eine Frau war, wie man argwöhnen könnte. Clara Schumann war ebenfalls eine Frau, aber von ihr wissen wir auch nach Roberts Tod alles, was sie getan hat. Kultur ist dieser Prozess des Auswählens. Im Gegensatz dazu überschwemmt uns die gegenwärtige Kultur via Internet jeden Tag, jede Minute mit Einzelheiten über sämtliche Calpurnias dieser Erde, so dass ein Schüler, der für seine Hausarbeit recherchiert, das Gefühl haben muss, Calpurnia sei genauso wichtig wie Caesar.
J.-C. C.: Wie soll man aber die Auswahl für die künftigen Generationen treffen? Wer soll sie treffen? Wie soll man vorhersehen, was unsere Nachfahren interessieren wird, was unverzichtbar für sie ist, was ganz einfach nützlich oder gar angenehm? Wie soll man filtern, wenn, wie Sie sagten, durch unsere Computer alles auf uns einströmt, ohne Unterschied, ohne Ordnung, ohne Hierarchie? Mit anderen Worten, wie sollen wir unter diesen Bedingungen unser Gedächtnis einrichten, im Wissen, dass Gedächtnis eine Frage der Auswahl, der Vorlieben und des Verwerfens, der vorsätzlichen oderunwillkürlichen Auslassungen ist? Und im Wissen, dass das Gedächtnis unserer Nachfahren nicht notwendig von der gleichen Art sein wird wie das unsere. Wird es das Gedächtnis von Klonen sein?
Ich bin studierter Historiker und weiß, wie misstrauisch man den Dokumenten gegenüber sein muss, von denen allgemein angenommen wird, sie würden uns genaue
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