Die große Zukunft des Buches
Generation war noch gezwungen, in der Schule Gedichte auswendig zu lernen, die späteren dann immer weniger. Beim Auswendiglernen ging es darum, die Gedächtnisfähigkeiten zu trainieren, und damit die Intelligenz. Heute, da wir nicht mehr dazu gezwungen sind, sollten wir es uns als tägliche Übung selbst auferlegen, da wir sonst Gefahr laufen, vorzeitig zu altern.
J.-C. C.: Lassen Sie mich dem, was Sie sagen, noch zwei Aspekte hinzufügen. Es stimmt, dass das Gedächtnis in gewisser Weise eine Art Muskel ist und dass wir es trainieren können, wie auch die Einbildungskraft. Freilich ohne dabei so zu werden wie dieser Funes von Borges, von dem Sie vorhin sprachen, ein Mann, der sich an alles erinnert, der das süße Privileg des Vergessens verloren hat. Dennoch: Niemand hat wohl mehr Texte auswendig gelernt als Theaterschauspieler. Doch trotz dieser tagtäglichen Beanspruchung, trotz dieses lebenslangen Trainings sind auch unter Theaterschauspielern viele Fälle von Alzheimer bekannt, ich habe mich oft gefragt, warum. Überdies verblüfft mich, bestimmt genauso wie Sie, diese Koinzidenz zwischen der Entwicklung des künstlichen Gedächtnisses in unseren Computern, das offenbar grenzenlos ist, und der Zunahme von Alzheimer – als hätten die Maschinen die Oberhand über die Menschengewonnen, indem sie unser Gedächtnis unnütz, ja lächerlich machten. Wir brauchen nicht mehr wir selbst zu sein. Ist das nicht erstaunlich und ziemlich erschreckend?
U. E.: Man muss natürlich die Funktion von ihrem materiellen Träger unterscheiden. Gehen trainiert die Funktionstüchtigkeit des Beins, aber ich kann es mir brechen, und dann kann ich nicht mehr gehen. Dasselbe lässt sich vom Gehirn sagen. Wenn die grauen Zellen von irgendeiner Form der physischen Degeneration betroffen sind, genügt es natürlich nicht, jeden Tag zehn Verse von Racine auswendig gelernt zu haben. Ein Freund von mir, Giorgio Prodi, Bruder von Romano Prodi, ein großer Onkologe, der übrigens an Krebs gestorben ist, hat einmal zu mir gesagt, als er praktisch alles über sein Fachgebiet im Kopf hatte: »Würden wir morgen alle hundert Jahre alt, würde die Mehrheit an Krebs sterben.« Je länger die Lebensdauer, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass unser Körper schlappmacht. Vielleicht ist ja unser Alzheimer bloß die Folge davon, dass wir länger leben.
J.-C. C.: Einspruch, Euer Ehren. Erst kürzlich habe ich in einer medizinischen Fachzeitschrift gelesen, dass die Alzheimer-Patienten immer jünger werden. Heute können auch Leute mit fünfundvierzig Jahren schon davon betroffen sein.
U. E.: Na gut, dann höre ich also auf, Gedichte auswendig zu lernen, und genehmige mir jeden Tag eine Flasche Whisky. Danke für die schönen Aussichten! »Merdre!«, wie Ubu sagen würde.
J.-C. C.: Da fällt mir folgendes Zitat ein – mein Gedächtnis funktioniert wie auf Abruf: »Ich erinnere mich an einen Menschen, der ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis hatte. Aber ich habe vergessen, was er wusste.« Ich erinnere mich also nur an das Vergessen. An diesem Punkt unserer Unterhaltung ist es vielleicht angebracht, auf den Unterschied zwischen Wissen und Erkenntnis hinzuweisen, den das Französische ebenso macht wie das Italienische und das Deutsche. Wissen ist das, womit wir befrachtet sind und was nicht immer nützlich ist. Erkenntnis ist die Umwandlung von Wissen in Lebenserfahrung. Vielleicht können wir die Last des sich ständig erneuernden Wissens den Maschinen anvertrauen und uns auf die Erkenntnis konzentrieren. Sicher muss man den Satz von Michel Serres in diesem Sinne verstehen: Es bleibt uns tatsächlich – welche Erleichterung – nur die Intelligenz. Fügen wir hinzu, dass natürlich all die Fragen um das Gedächtnis, die wir uns hier stellen und erörtern, sinnlos würden, wenn eine größere ökologische Katastrophe die Menschheit vernichten und wenn unsere Spezies per Zufall oder Erschöpfung verschwinden würde. Mir kommt der letzte Satz von Lévi-Strauss’ Mythologica in den Sinn: »… das heißt nichts.« »Nichts« ist das letzte Wort. Unser letztes Wort.
Die Rache der Ausgefilterten
J.-P. DE T.: Kommen wir zurück zu der Situation, die mit der Bereitstellung eines unkontrollierbaren Gedächtnisses durch das Internet entstanden ist. Wie soll man umgehen mit diesem Material, mit dieser Vielfalt, diesen Widersprüchen, diesem Überfluss?
J.-C. C.: Was uns das Internet liefert, ist in der Tat Information
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