Die große Zukunft des Buches
im Rohzustand, unterschiedslos, unstrukturiert und ohne Kontrolle über die Quellen. Nun hat aber jeder das Bedürfnis, sein Wissen nicht nur zu überprüfen, sondern ihm auch einen Sinn zu geben, das heißt, es zu ordnen und an einer bestimmten Stelle in seine eigenen Überlegungen einzufügen. Aber nach welchen Kriterien? Unsere Geschichtsbücher wurden häufig, wir sagten es schon, ausgehend von nationalistischen Prämissen verfasst, von manchmal nur flüchtigen Moden, von ideologischen Einflüssen, die hier und da spürbar werden. Eine unschuldige Geschichte der Französischen Revolution gibt es nicht. Für die französischen Historiker des 19. Jahrhunderts war Danton die große Gestalt, es gibt Denkmäler für ihn und überall nach ihm benannte Straßen. Dann fiel er in Ungnade, man war überzeugt von seiner Korruption, und mit Unterstützung marxistischer Historiker wie Albert Matthiez kam Robespierre, der Unbestechliche, wieder zu Ehren. In kommunistischen Vorstädten wurden ein paar Straßen nach ihm benannt, und sogar eine Metro-Station in Montreuil-sur-Bois. Wen trifft es morgen? Wen oder was? Wir wissen es nicht. Wir brauchenalso einen Standpunkt oder wenigstens ein paar Anhaltspunkte, um uns auf diesem stürmischen Ozean des Wissens zu orientieren.
U. E.: Ich sehe eine andere Gefahr. Die Kulturen nehmen ihre Filterungen vor und sagen uns, was bewahrt werden muss und was man vergessen soll. So gesehen bieten sie uns einen gemeinsamen Bereich für Verständigung, auch hinsichtlich der Irrtümer. Welche Revolution Galilei auslöste, kann man nur ermessen, wenn man von den Theorien des Ptolemäus ausgeht. Uns muss die Etappe Ptolemäus präsent sein, damit wir die Etappe Galilei erreichen und einsehen können, dass ersterer irrte. Jede Diskussion zwischen uns ist nur möglich auf der Grundlage gemeinsamer Wissensvoraussetzungen, einer gemeinsamen Enzyklopädie. Ich könnte Ihnen sogar beweisen, dass Napoleon nie existiert hat – aber nur, weil wir alle drei gelernt haben, dass er existiert hat. Dies ist die Garantie für die Kontinuität des Dialogs. Diese Formen von Herdentrieb sind es, die den Dialog, die Kreativität und die Freiheit erlauben. Mit dem Internet, das uns alles gibt und uns dazu verurteilt, die Filterung nicht mehr durch Vermittlung der Kultur vorzunehmen, sondern nach eigenem Gutdünken, laufen wir Gefahr, bald über sechs Milliarden Enzyklopädien zu verfügen. Womit jede Verständigung unmöglich würde.
Das ist ein bisschen Science-Fiction, da es immer Kräfte geben wird, die die Menschen dazu treiben, denselben Glaubensmeinungen anzuhängen, soll heißen, es wird immer die anerkannte Autorität dessen geben, was man die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft nennt, der wir vertrauen, weil wir sehen, dass sie imstande ist, ihre Ergebnisse öffentlich zu revidieren und zu korrigieren, und zwar täglich.Aufgrund dieses Vertrauens in die wissenschaftliche Gemeinschaft glauben wir felsenfest daran, dass die Quadratwurzel aus 2 die Zahl
1,41421356237309504880168872
4209698078569671875376948073
17667973799073 usw. ist (ich weiß die Zahl nicht auswendig, ich habe sie auf meinem Taschencomputer nachgeschaut). Anders gesagt, welche Garantie hätte ein normaler Mensch sonst dafür, dass diese Zahl stimmt? Man könnte sagen, die wissenschaftlichen Wahrheiten werden auch künftig mehr oder minder für alle gültig bleiben, denn wenn wir die mathematischen Grundbegriffe nicht mehr teilten, wäre es beispielsweise unmöglich, ein Haus zu bauen.
Aber man braucht nur ein wenig im Internet zu surfen, um auf Gruppen zu stoßen, die Begriffe und Dinge in Frage stellen, die wir für allgemein anerkannt hielten, indem sie etwa behaupten, die Erde sei innen hohl und wir lebten an ihrer Innenfläche, oder die Welt sei tatsächlich in sechs Tagen erschaffen worden. Infolgedessen ist die Gefahr groß, mehreren verschiedenen Formen des Wissens zu begegnen. Wir waren überzeugt, dass mit zunehmender Globalisierung alle in gleicher Weise denken würden. Das Gegenteil ist der Fall: Die Globalisierung trägt zur Zerstückelung des gemeinsamen Erfahrungshorizonts bei.
J.-C. C.: Angesichts dieser Überfülle, durch die jeder sich seinen Weg bahnen muss, koste es, was es wolle, fühle ich mich manchmal an die indische Götterwelt erinnert, mit ihren sechsunddreißigtausend Hauptgottheiten und der unendlichen Zahl an minderen Gottheiten. Trotz dieser extremen Zersplitterung des Göttlichen gibt es
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