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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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auch große Gottheiten, die allen Indern gemeinsam sind. Warum? Es gibt einen Standpunkt, der in Indien der Schildkrötenstandpunktgenannt wird. Setzt man eine Schildkröte auf den Boden, so kommen ihre vier Beine aus dem Panzer heraus. Sie stellen die vier Himmelsrichtungen dar. Steigen Sie nun auf die Schildkröte, die eine der Verkörperungen von Vishnu ist, und wählen unter den sechsunddreißigtausend Gottheiten, die Sie rings um sich sehen, diejenigen aus, die Sie besonders ansprechen. Danach bestimmen Sie Ihren Weg.
    Für mich ist dies dasselbe, oder doch fast, wie der persönliche Weg, den wir im Internet zurücklegen. Jeder Inder hat seine persönlichen Gottheiten. Und doch teilen alle eine Gesamtheit an Glaubensinhalten. Aber ich möchte noch einmal auf das Filtern zurückkommen. Wir alle sind durch die vor uns erfolgten Filterungen erzogen worden. Das ist die Eigenart jeder Kultur, wie Sie zu Recht gesagt haben. Aber es ist natürlich nicht verboten, diese Filter in Frage zu stellen. Und wir verzichten darauf keineswegs. Ein Beispiel: Meiner Ansicht nach sind die größten französischen Dichter, abgesehen von Baudelaire und Rimbaud, weitgehend unbekannt. Es sind die freizügigen und »preziösen« Barockdichter vom Anfang des 17. Jahrhunderts, die von Boileau und den Klassikern zum Tode verurteilt wurden. Sie heißen Jean de Lacépède, Jean-Baptiste Chassignet, Claude Hopil, Pierre de Marbeuf. Das sind Dichter, von denen ich manches auswendig kann, die ich aber nur in Originalausgaben finde, das heißt in seltenen und teuren Ausgaben aus ihrer Zeit. Sie sind kaum jemals wiederaufgelegt worden. Ich wiederhole, dass sie für mich zu den größten Dichtern Frankreichs zählen, haushoch überlegen einem Lamartine oder Alfred de Musset, die man uns doch als die hervorragendsten Vertreter unserer Dichtung gepriesen hat. Musset hat vierzehn Werke hinterlassen, und ich war glücklich, als ich eines Tages entdeckte, dass Alfred Jarry ihn als »vierzehnmal Null« bezeichnet hat.
    Unsere Vergangenheit ist also nicht festgelegt. Nichts ist lebendiger als die Vergangenheit. Ich würde sogar noch weiter gehen. Als ich für Jean-Paul Rappenau das Drehbuch zu Cyrano de Bergerac nach Edmond Rostand schrieb, wollten wir die Figur der Roxane, die im Drama eher farblos bleibt, stärker hervorheben. Es machte mir Vergnügen, die Geschichte neu zu erzählen und dabei zu sagen, es sei die Geschichte einer Frau. Wie das, die Geschichte einer Frau? Jawohl, einer Frau, die den idealen Mann gefunden hat, er ist schön, intelligent, großzügig, er hat nur einen Fehler: Er ist doppelt.
    Roxane schätzte die Dichter jener Zeit ganz besonders, es waren die Dichter ihrer Epoche. Um die Schauspielerin, Anne Brochet, mit ihrer Figur vertraut zu machen – mit der Figur einer intelligenten und sensiblen Frau aus der Provinz, die nach Paris kommt –, hatte ich ihr ein paar Originalausgaben dieser vergessenen Dichter in die Hand gedrückt. Sie haben ihr nicht nur gefallen, wir haben sogar beim Festival von Avignon eine gemeinsame Lesung daraus veranstaltet. Es ist also möglich, zu Unrecht verdammte Tote wieder zum Leben zu erwecken, und sei es auch nur für einen Augenblick.
    Ich spreche hier wirklich von Toten, von echten Toten. Wir sollten uns erinnern, dass einige dieser Dichter auf der Place de Grève verbrannt worden sind, mitten im 17. Jahrhundert, weil sie Libertins waren, Rebellen, oft homosexuell und immer frech. So erging es Jacques Chausson und dann Claude Petit. Von letzterem gibt es ein Sonett, das er auf den Tod seines Freundes verfasst hat, der 1661 wegen Sodomie und freizügigem Lebenswandel hingerichtet wurde. Der Henker gab den Verurteilten ein mit Schwefel getränktes Hemd, damit die Flammen sie möglichst schnell erfasstenund erstickten. »Freunde, man hat den unglücklichen Chausson verbrannt«, so beginnt das Sonett von Claude Petit. Es schildert die furchtbaren Qualen und endet mit einer Anspielung auf das brennende Schwefelhemd: »Am Ende starb er, wie er gelebt hat / der üble Kerl, aller Welt den Hintern zeigend.«
    Claude Petit wurde ein Jahr später ebenfalls verbrannt. Das wissen die wenigsten. Es war die Zeit, als Corneille und Molière ihre Triumphe feierten und Versailles erbaut wurde, es war unser »Goldenes Zeitalter«. Hier haben wir also eine andere Form von Filterung: Menschen verbrennen. Zum Glück gab es dank der aufkommenden Bibliophilie Ende des 19. Jahrhunderts einen Bücherliebhaber, Frédéric

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