Die große Zukunft des Buches
zu sagen hat. Die große Zeit des Neorealismus bricht an, als Italien in Trümmern liegt. Wir waren noch nicht in die Epoche des sogenannten italienischen Wirtschaftswunders eingetreten, des industriellen und ökonomischen Wiederaufschwungs der fünfziger Jahre. Rossellinis Rom, offene Stadt ist von 1945, Paisà von 1947, De Sicas Fahrraddiebe von 1948. Im 18. Jahrhundert war Venedig noch eine bedeutende Handelsmacht, befand sich aber schon im Niedergang. Trotzdem hat es Tiepolo, Canaletto, Guardi und Goldoni hervorgebracht. Wenn die Macht schwindet, wirkt das für manche Bereiche der Kunst offenbar stimulierend, für andere nicht.
J.-C. C.: In der Zeit, als Napoleon die absolute Macht innehatte, also zwischen 1800 und 1804, erschien in Frankreich kein einziges Buch, das heute noch gelesen würde. Die Malerei war pompös, bald manieriert. David, der bis zu seiner Krönung Napoleons ein großer Maler war, wurde völlig banal und platt. Es sollte traurig mit ihm enden, in Belgien, wo er abgeschmackte Antikenmotive malte. Keinerlei neue Musik. Kein neues Theater. Man spielte wieder die Stücke von Corneille. Wenn Napoleon ins Theater ging, sah er sich Cinna an. Madame de Staël war gezwungen, ins Exil zu gehen. Chateaubriand war der Obrigkeit verhasst. Sein Meisterwerk, Die Erinnerungen von jenseits des Grabes , die er im Geheimen zu schreiben begann, wurden nur teilweise zu seinen Lebzeiten und erst viel später vollständig publiziert. Die Romane, die damals seinen Ruhm begründeten, sind heute leider unlesbar. Ein merkwürdiger Fall von Filterung:Was er für eine breite Leserschaft schrieb, lässt uns heute völlig kalt; aber das, was er in Abgeschiedenheit für sich allein schrieb, bezaubert uns.
U. E.: Das ist genau wie bei Petrarca. Er verbrachte sein Leben mit der Arbeit an einem großen Epos in lateinischer Sprache, Africa , von dem er überzeugt war, es würde die neue Äneis , die ihm den großen Ruhm beschert. Die Sonette, die ihm dann eigentlich ewigen Ruhm eintrugen, schrieb er, wenn er nichts Besseres zu tun hatte.
J.-C. C.: Der Begriff der Filterung, den wir hier erörtern, erinnert mich spontan an die Weine, die wir vor dem Trinken filtern. Es gibt neuerdings einen Wein, der die Eigenschaft hat, »ungefiltert« zu sein. Er bewahrt sich all seine Unreinheiten, die ihm teilweise ganz besondere Geschmacksnoten verleihen, und die ihm die Filterung nehmen würde. Vielleicht haben wir in der Schule eine zu stark gefilterte Literatur gekostet, der die unreinen Geschmacksnoten fehlten.
Jedes heute veröffentlichte Buch
ist eine Post-Inkunabel
J.-P. DE T.: Diese Unterhaltung würde Wichtiges übergehen, wollten wir nicht in Betracht ziehen, dass Sie beide nicht nur Autoren sind, sondern auch Bibliophile, dass Sie also Zeit und Geld dafür aufgewandt haben, äußerst seltene und äußerst teure Bücher zu sammeln, und zwar gemäß einer bestimmten Logik. Können Sie uns diese verraten?
J.-C. C.: Vorweg eine Geschichte, die mir Peter Brook erzählt hat. Edward Gordon Craig, der große Theatermann, der Stanislawski des englischen Theaters, verbrachte die Kriegsjahre 1939 bis 1945 in Paris und wusste nicht, was anfangen. Er hatte ein kleines Appartement, ein wenig Geld und konnte natürlich nicht zurück nach England. Um sich die Zeit zu vertreiben, besuchte er die Bouquinisten an den Seinequais. Zufällig fand und kaufte er dort zwei Dinge. Das erste war ein Straßenverzeichnis von Paris zur Zeit des Directoire, mit einer Liste der Personen, die unter den verschiedenen Hausnummern wohnten. Das zweite war das Auftragsbuch eines Tapezierers aus derselben Epoche, eines Möbelhändlers, in das dieser seine Termine eintrug.
Craig legte das Straßenverzeichnis und das Auftragsbuch nebeneinander und verbrachte zwei Jahre damit, die Wege des Tapezierers im Einzelnen zu rekonstruieren. Mithilfe der implizit von dem Handwerker gelieferten Informationen konnte er die Geschichte von Liebesaffären und sogar von Seitensprüngen unter dem Directoire rekonstruieren. PeterBrook, der Craig gut kannte und sich davon überzeugen konnte, mit welcher Akribie er seine Nachforschungen betrieb, erzählte mir, wie absolut faszinierend die so aufgedeckten Geschichten waren. Wenn der Mann, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, wo ein Kunde wartete, nur eine Stunde brauchte, er in Wirklichkeit aber doppelt so lang unterwegs war, so wahrscheinlich deshalb, weil er zwischendurch haltgemacht hatte. Aber um was zu
Weitere Kostenlose Bücher