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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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etablierte, als eine Macht, die sich nur mit einem gewissen Klassizismus identifizieren konnte. Gewiss waren es dieselben Gründe, weshalb die Zeit, von der Sie sprachen, also vom Ende des 17. bis weit ins 18. Jahrhundert, keine wirklich poetische Inspiration kannte. Die Größe Frankreichs verlangte damals nach einem disziplinierten Stil, der dem Künstlerleben entgegengesetzt ist.
     
    J.-C. C.: Wir könnten fast sagen, dass Frankreichs glanzvollste Epoche diejenige ist, in der es auf Poesie verzichtete. In der das Land wie gefühllos war, fast ohne Stimme. Zur gleichen Zeit erlebte Deutschland die Revolution des Sturm und Drang. Manchmal frage ich mich, ob es nicht bei den heutigen Machthabern, bei Männern vom Schlag eines Berlusconi oder Sarkozy, die sich bei jeder Gelegenheit damit brüsten, dass sie nicht lesen, eine gewisse Sehnsucht nach jenen Zeiten gibt, als die aufsässigen Stimmen verstummt waren und die Macht rein prosaisch war. Unser Präsident scheint manchmal eine spontane Abneigung gegen die Prinzessin von Cleve zu hegen. Er, der ständig in Eile ist, kann den Nutzen einer solchen Lektüre nicht erkennen und kommt mit besorgniserregender Häufigkeit immer wieder darauf zurück. Stellen wir uns nur einmal vor, welche anderen Autoren wir gemeinsam mit Madame de Lafayette dem großen Grab, dem langen Schweigen der Nutzlosen überantworten könnten. Apropos: Ihnen in Italien ist ein Sonnenkönig erspart geblieben.
     
    U. E.: Wir hatten aber sonnengleiche Fürsten, die an der Spitze ihrer Stadtstaaten eine außergewöhnliche Kreativität begünstigten, und das bis ins 17. Jahrhundert. Danach kam ein langsamer Niedergang. Die Entsprechung zu Ihrem Sonnenkönig war der Papst. Es ist also kein Zufall, dass unter der Herrschaft der großen Päpste Architektur und Malerei besonders florierten. Aber nicht die Literatur. Die große literarische Epoche Italiens ist die Zeit, als die Dichter an den Fürstenhöfen der kleineren Städte wie Florenz oder Ferrara arbeiteten – und nicht in Rom.
     
    J.-C. C.: Wir sprechen hier immer vom Filtern, aber wie kann man das machen, wenn es um eine Epoche geht, von der wir nicht genügend Abstand haben? Nehmen wir an, ich werde gebeten, in einer französischen Literaturgeschichte Aragon zu behandeln. Was erzähle ich da? Aragon und Éluard, hervorgegangen aus dem Surrealismus, haben später schreckliche prokommunistische Propaganda geschrieben: »Das Universum Stalins wird ständig neu geboren …« Éluard wird wohl als Dichter bleiben, Aragon vielleicht als Romanautor. Doch was mir von ihm in Erinnerung geblieben ist, sind seine Chansontexte, die Brassens und andere vertont haben: Il n’ya pas d’amour heureux und Est-ce ainsi que les hommes vivent? Ich liebe diese Texte nach wie vor sehr, sie haben meine Jugend begleitet und verschönt. Aber mir ist klar, dass sie nur eine Episode in der Literaturgeschichte darstellen. Was davon wird für die kommenden Generationen bleiben?
    Ein anderes Beispiel aus dem Film. In meiner Studienzeit, vor fünfzig Jahren, war das Kino etwa fünfzig Jahre alt. Wir hatten damals große Meister, die wir bewunderten und deren Werke wir sezierten. Einer dieser Meister war René Clair. Buñuel sagte, es gebe drei Regisseure, die machen könnten, was sie wollten, ich spreche hier von den dreißiger Jahren: Chaplin, Walt Disney und René Clair. Heute weiß in den Filmhochschulen niemand mehr, wer René Clair war. Er ist in der Versenkung verschwunden, wie König Ubu sagen würde. Man erinnert sich schon kaum mehr an seinen Namen. Dasselbe gilt für die Deutschen aus den dreißiger Jahren, die Buñuel ganz besonders liebte: Georg Wilhelm Pabst, Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau. Wer kennt sie noch, wer zitiert sie, wer nimmt sie sich zum Vorbild? Vermutlich wird Fritz Lang überleben, zumindest im Gedächtnisder Filmfreunde, aufgrund von M – eine Stadt sucht einen Mörder . Aber die anderen? Die Filterung wird unmerklich vollzogen, unsichtbar, in den Filmhochschulen selbst, und es sind die Studenten, die entscheiden. Plötzlich taucht dann einer dieser »Ausgefilterten« wieder auf, weil einer seiner Filme da oder dort wieder gezeigt worden ist und Erstaunen erregt hat. Weil ein Buch über ihn erschienen ist. Aber das ist so selten. Man kann also sagen, sobald das Kino beginnt, in die Geschichte einzugehen, geht es zugleich auch ins Vergessen ein.
     
    U. E.: Dasselbe gilt in Italien für die Epoche der Jahrhundertwende und die »drei

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