Die große Zukunft des Buches
Position eines Tennisballs, der über den Ozean fliegt, zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmen. Warum gibt es zur Zeit Shakespeares in England keine große Malerei, während es in Italien zur Zeit Dantes einen Giotto gab und zur Zeit Ariosts einen Raffael? Wie entsteht die Französische Schule? Sie können natürlich sagen, dass François I. Leonardo nach Frankreich holte und der offenbar den Boden für das bereitete, was später die Französische Schule wurde. Aber was hätte man damit erklärt?
J.-C. C.: Ich bleibe noch einen Augenblick bei den Anfängen des großen italienischen Kinos – nicht ohne Nostalgie. Warum in Italien und warum gerade bei Kriegsende? Einflüsse von Jahrhunderten der Malerei, die mit einer außergewöhnlichen Leidenschaft junger Filmemacher für das Leben des Volkes zusammentreffen? Das ist leicht gesagt. Wir können die Umstände analysieren, aber die wahren Gründe werden uns immer verborgen bleiben. Vor allem wenn wir uns fragen: Und warum ist es so plötzlich verschwunden?
Ich habe Cinecittà oft mit einem großen Maleratelier verglichen, in dem gleichzeitig Tizian, Veronese, Tintoretto und alle ihre Schüler arbeiteten. Sie wissen bestimmt, als der Papst Tizian nach Rom kommen ließ, war der Tross, der den Maler begleitete, angeblich sieben Kilometer lang. Das war wie der Umzug eines großen Filmstudios. Aber genügt das, um die Entstehung des Neorealismus und der italienischenFilmkomödie zu erklären? Und das Auftauchen von Visconti, Antonioni, Fellini?
J.-P. DE T.: Kann man sich eine Kultur vorstellen, die keinerlei Kunst hervorbringt?
U. E.: Das ist sehr schwer zu sagen. Man hat es von bestimmten Weltregionen angenommen. Oft hat es dann genügt, vor Ort zu gehen und ein wenig zu forschen, um zu sehen, dass es dort Traditionen gab, die uns nur nicht bekannt waren.
J.-C. C.: Man muss sich auch klarmachen, dass in den traditionellen alten Kulturen der Kult um die große Schöpferpersönlichkeit nicht existierte. Herausragende Künstler konnten sich ausdrücken, ohne ihre Werke zu »signieren«. Und vor allem, ohne sich für Künstler zu halten und ohne für solche gehalten zu werden.
U. E.: Sie kannten und kennen auch nicht die Kultur der ständigen Erneuerung, die für das Abendland typisch ist. Es gibt Kulturen, in denen der Ehrgeiz des Künstlers darin besteht, ein bestimmtes dekoratives Element so getreu wie möglich zu wiederholen und dieses von Künstlern seiner Art ererbte Können an seine Schüler weiterzugeben. Wenn es in ihrer Kunst Variationen gibt, bemerkt man sie nicht. Auf einer Reise durch Australien war ich besonders beeindruckt von den Lebenszeugnissen der Aborigines, nicht derer, die heute vom Alkohol und der Zivilisation praktisch ausgelöscht sind, sondern derer, die vor der Ankunft der Europäer dort gelebt haben. Wie verlief deren Leben? Sie waren Nomaden, und in der immensen australischen Wüste führten ihre Erkundungszüge sie immer wieder im Kreis. Abends fingen sie eine Eidechseoder eine Schlange, das war ihre Mahlzeit, und am nächsten Morgen zogen sie weiter. Wären sie, statt im Kreis zu gehen, nur einen Moment lang einer geraden Linie gefolgt, so wären sie ans Meer gelangt, wo ein üppiges Mahl sie erwartete. In jedem Fall besteht ihre Kunst, gestern wie heute, nur aus Kreisen, die uns an eine Art von – übrigens sehr schöner – abstrakter Kunst erinnern. Eines Tages kamen wir auf dieser Reise in ein Reservat, wo es eine christliche Kirche mit einem Priester gab. Der zeigte uns ein großes Mosaik im Inneren des Gebäudes, auf dem natürlich nur Kreise zu sehen waren. Der Priester erklärte uns, dass diese Kreise nach Ansicht der Aborigines den Leidensweg Christi darstellten, obwohl er uns nicht erklären konnte, warum. Mein damals halbwüchsiger Sohn, der keine besonders religiöse Erziehung genossen hatte, bemerkte, dass es vierzehn Kreise waren. Das sind natürlich die vierzehn Stationen des Kreuzwegs.
Aus Sicht der Aborigines war der Kreuzweg eine Art unaufhörliche Kreisbewegung, in vierzehn Stationen eingeteilt. Sie konnten sich also nicht von ihren Motiven, von ihrer Vorstellungswelt lösen. Gleichwohl gab es in dieser so stark repetitiven Tradition ein gewisses Moment von Erneuerung. Aber versuchen wir, unsere Phantasie etwas zu zügeln. Ich komme zurück zum Barock. Wir haben das Fehlen des Barock in Frankreich dadurch erklärt, dass die Monarchie sich in jener Zeit als sehr starke zentralistische Macht
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