Die große Zukunft des Buches
zugeschrieben zu werden? Hat Shakespeare Shakespeare geschrieben? Ist Homer Homer? Und so weiter.
J.-C. C.: Eine Erinnerung zu Shakespeare. Ich hielt mich in Peking auf, unmittelbar nach der Kulturrevolution. Beim Frühstück im Hotel las ich China Today auf Englisch. An diesem Morgen waren fünf von sieben Spalten auf der ersten Seite einem sensationellen Ereignis gewidmet: Experten in England hatten entdeckt, dass bestimmte Werke Shakespeares nicht von ihm stammten. Ich beeilte mich, den Artikel zu Ende zu lesen, um zu entdecken, dass der Streit sich in Wirklichkeit auf ein paar, obendrein wenig interessante Verse beschränkte, die über verschiedene seiner Stücke verstreut waren.
Abends war ich zum Essen mit zwei Sinologen eingeladenund berichtete ihnen von meiner Überraschung. Wie konnte eine Nicht-Nachricht über Shakespeare fast die ganze erste Seite von China Today einnehmen? Da sagte einer der beiden Sinologen zu mir: »Vergessen Sie nicht, dass Sie hier in einem Land sind, wo die Schrift seit langem, ja uranfänglich mit der Macht verknüpft ist. Wenn dem größten Dichter des Abendlands, vielleicht der Welt, etwas widerfährt, so ist das fünf Spalten auf der Seite eins wert.«
U. E.: Die Zahl der Arbeiten, deren Ziel es ist, die Authentizität des Shakespeareschen Werkes zu bestätigen oder zu bestreiten, ist unendlich. Ich besitze eine schöne Sammlung davon, jedenfalls die berühmtesten. Die Debatte trägt den Namen The Shakespeare-Bacon controversy . Ich habe dazu einmal einen Sketch verfasst, in dem es heißt, wären die Werke Shakespeares von Bacon geschrieben, hätte der niemals die Zeit gehabt, seine eigenen zu schreiben, die daher von Shakespeare geschrieben sein müssten.
J.-C. C.: Wir in Frankreich haben dasselbe Problem mit Corneille und Molière, wir sprachen schon davon. Wer ist der Autor der Werke Molières? Wer, wenn nicht Molière? Zur Zeit meiner klassischen Studien hielt ein Professor uns vier Monate lang mit der »homerischen Frage« auf. Sein Schluss war folgender: »Wir wissen nun, dass die homerischen Epen wahrscheinlich nicht von Homer geschrieben wurden, sondern von seinem Enkel, der ebenfalls Homer hieß.« Die Dinge haben sich weiterentwickelt, da die Spezialisten sich heute darüber einig sind, dass Ilias und Odyssee sicher nicht vom selben Autor stammen. Die Fährte mit dem Enkel Homers scheint also endgültig aufgegeben worden zu sein.
Der Fall einer Co-Autorschaft von Corneille und Molière lässt alle möglichen Szenarios zu. Molière leitete ein Theater mit Angestellten, einem Regisseur, Schauspielern, Leuten, die ihn unentwegt sahen. Es gab Bücher, in die seine Aktivitäten eingetragen wurden, minutiös wie Rezepte. Das lässt also vermuten, dass das Wesentliche verborgen blieb, dass Corneille ihm seine Texte nachts brachte, in einen großen schwarzen Mantel gehüllt. Es ist erstaunlich, dass damals niemand etwas bemerkte. Aber Leichtgläubigkeit siegt eben über Logik. Auch hier haben wir es mit einer absurden Verschwörungstheorie zu tun. Einige Leute sind eben außerstande, die Welt so anzunehmen, wie sie ist. Da man sie nicht verändern kann, müssen sie sie mit aller Gewalt umschreiben.
U. E.: Der Akt der Schöpfung muss notwendig mit einem Geheimnis verknüpft sein. Das Publikum verlangt es so. Wie würde sonst ein Dan Brown sein Auskommen finden? Seit Charcot wissen wir ganz genau, warum ein Hysteriker Stigmata tragen kann, aber immer noch wird ein Kult um Pater Pio betrieben. Dass Corneille Corneille ist, das ist banal. Aber dass Corneille nicht nur Corneille, sondern auch Molière sein soll, macht es doppelt interessant.
J.-C. C.: Im Hinblick auf Shakespeare muss man daran erinnern, dass zu seinen Lebzeiten nur wenige seiner Stücke veröffentlicht wurden. Lang nach seinem Tod hat sich eine Gruppe von englischen Gelehrten zusammengetan, um die erste Gesamtausgabe seiner Werke zu besorgen, erschienen 1623, die als die Erstausgabe gilt und Folio genannt wird. Der Schatz der Schätze natürlich. Gibt es irgendwo noch Exemplare dieser Ausgabe?
U. E.: Ich habe drei in der Folger Library in Washington gesehen. Es gibt welche, ja, aber mehr auf dem Antiquariatsmarkt. In meinem Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana erzähle ich die Geschichte von einem Buchhändler und der Folio -Ausgabe. Das ist der Traum jeden Sammlers: eine Gutenberg-Bibel oder eine Folio -Ausgabe von 1623 zu besitzen. Aber es gibt keine Gutenberg-Bibeln
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