Die große Zukunft des Buches
nationale. Und immer noch werden diese übersetzt und erforscht.
J.-P. DE T.: Dann also eine andere Frage: Kann man sich vorstellen, ein unbekanntes Meisterwerk zu entdecken?
U. E.: Ein italienischer Aphoristiker hat geschrieben, man könne kein großer bulgarischer Dichter sein. Die Idee an sich scheint ein wenig rassistisch. Wahrscheinlich wollte er eins von den folgenden zwei Dingen sagen oder beide auf einmal (anstelle von Bulgarien hätte er ein anderes kleines Land wählen können): Erstens, selbst wenn es diesen großen Dichter gegeben hätte, ist seine Sprache nicht bekannt genug, wir hätten also nie Gelegenheit, seinen Weg zu kreuzen. Wenn »groß« also berühmt bedeutet, so kann man einguter Dichter und nicht berühmt sein. Ich war einmal in Georgien, und da hat man mir gesagt, ihr Nationalepos Der Recke im Tigerfell von Rustaveli sei ein herausragendes Meisterwerk. Ich glaube es, aber es hatte doch keine solche Wirkung wie Shakespeare!
Zweitens, ein Land muss von den großen historischen Ereignissen erfasst werden, um ein Bewusstsein hervorzubringen, das zu universalem Denken fähig ist.
J.-C. C.: Wie viele Hemingways sind in Paraguay auf die Welt gekommen? Bei ihrer Geburt besaßen sie vielleicht die Befähigung, ein Werk von großer Originalität, von wahrer Kraft zu schaffen, aber sie haben es nicht getan. Sie konnten es nicht tun. Weil sie nicht schreiben konnten. Oder weil es keinen Verleger gab, der sich für ihr Werk interessiert hätte. Vielleicht wussten sie nicht, dass sie schreiben konnten, dass sie »Schriftsteller« sein konnten.
U. E.: In seiner Poetik nennt Aristoteles etwa zwanzig Tragödien, die wir nicht mehr kennen. Das eigentliche Problem ist Folgendes: Warum haben nur die Werke von Sophokles und Euripides überlebt? Waren sie besser, waren sie es mehr wert, der Nachwelt überliefert zu werden? Oder haben ihre Autoren intrigiert, um die Anerkennung ihrer Zeitgenossen zu erringen und ihre Konkurrenten auszuschalten, eben die, die Aristoteles nennt, weil sie diejenigen waren, die die Geschichte hätte bewahren müssen?
J.-C. C.: Dabei sind von den Werken des Sophokles auch noch einige verloren. Waren die verlorenen Werke von höherer Qualität als die erhaltenen? Vielleicht waren diejenigen, die uns erhalten sind, beim athenischen Publikum beliebter,ohne deshalb interessanter zu sein, wenigstens in unseren Augen. Vielleicht würden wir heute andere vorziehen. Wer hat beschlossen, zu bewahren oder nicht zu bewahren, das eine Werk ins Arabische zu übersetzen, ein anderes dagegen nicht? Von wie vielen großen »Autoren« haben wir nie etwas gehört? Und doch, auch ohne Bücher ist ihr Ruhm bisweilen immens. Hier stoßen wir wieder auf die Idee des Phantoms. Wer weiß? Der größte Schriftsteller ist vielleicht der, von dem wir nichts gelesen haben. Auf dem Höhepunkt des Ruhms kann es zweifellos nur die Anonymität geben. Ich denke an die Kommentare zu den Werken Shakespeares oder Molières, die herausfinden wollen, wer sie verfasst hat – idiotische Fragestellung. Welche Bedeutung hat das? Der wahre Shakespeare geht unter im Ruhm Shakespeares. Shakespeare ohne sein Werk wäre niemand. Shakespeares Werk ohne Shakespeare bliebe immer noch das Werk Shakespeares.
U. E.: Vielleicht gibt es noch eine andere Antwort auf unsere Frage. Jedes Buch wird im Lauf der Zeit von all den Deutungen überzogen, die wir ihm gegeben haben. Wir lesen Shakespeare nicht so, wie er geschrieben hat. Unser Shakespeare ist mithin erheblich reicher als das, was man zu seiner Zeit las. Um ein Meisterwerk zu einem solchen zu machen, genügt es, dass es bekannt ist, das heißt, dass es all die Deutungen in sich aufnimmt, die es hervorgerufen hat und die aus ihm das machen, was es ist. Das unbekannte Meisterwerk hat nicht genügend Leser gehabt, nicht genug Lesarten, nicht genug Deutungen. Letztlich könnte man also sagen, der Talmud habe die Bibel hervorgebracht.
J.-C. C.: Jede Lektüre verändert das Buch natürlich, wie die Ereignisse, die uns zustoßen. Ein großes Buch bleibt immer lebendig. Es wächst und altert mit uns, ohne je zu sterben. Die Zeit befruchtet und verändert es, während die uninteressanten Werke an der Geschichte vorbeigleiten und verschwinden. Vor ein paar Jahren las ich gerade einmal wieder die Andromache von Racine. Und plötzlich stieß ich da auf die Verse der Andromache, in denen sie ihrer Dienerin Kephise von der Schlacht vor Troja berichtet: »Gedenke,
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