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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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tun haben, was beweist, dass diese Bücher keine unanfechtbaren Zeugen sind. Doch selbst wenn sie lügen, lehren sie uns etwas über die Vergangenheit.
     
    J.-C. C.: Versuchen wir uns einen Gelehrten im 15. Jahrhundert vorzustellen. Dieser Mann besitzt hundert oder zweihundert Bücher, von denen einige heute in unserem Besitz sein könnten. An den Wänden hat er fünf oder sechs Stiche hängen, Darstellungen von Rom oder Jerusalem, recht mangelhafte Stiche. Von der Welt hat er eine ferne und ungenaue Vorstellung. Will er sie wirklich kennenlernen, muss er auf Reisen gehen. Die Bücher sind schön, aber ungenügend und, wie Sie sagen, häufig falsch.
     
    U. E.: Selbst in der Nürnberger Chronik , einer illustrierten Geschichte der Welt von ihrer Erschaffung bis in die 1490er Jahre, wird manchmal derselbe Kupferstich verwendet, um verschiedene Städte darzustellen. Was bedeutet, dass es dem Drucker mehr darum ging, zu illustrieren, als zu informieren.
     
    J.-C. C.: Meine Frau und ich haben gemeinsam eine Sammlung angelegt, die man »Persienreisen« betiteln könnte. Die frühesten Werke stammen aus dem 17. Jahrhundert. Eine der ersten und bekanntesten Persienreisen ist die von Jean Chardin aus dem Jahr 1686. Dasselbe Buch erschien vierzig Jahre später in einer anderen Ausgabe in Oktav, das heißt in kleinerem Format und in mehreren Bänden. In Band ix ist eine zusammenfaltbare Ansicht der Ruinen von Persepolis eingefügt, die entfaltet gut drei Meter lang sein dürfte. Die Drucktafeln sind sukzessive aneinandergeklebt, und die ganze Prozedur musste für jedes Exemplar einzeln wiederholt werden! Eine unvorstellbare Arbeit.
    Derselbe Text wurde im 18. Jahrhundert ein weiteres Mal neu aufgelegt, mit genau denselben Stichen. Und dann noch einmal hundert Jahre später, als ob dieses Persien in zweihundert Jahren gar keine Form von Wandel durchgemacht hätte. Man ist jetzt in der Epoche der Romantik. In Frankreich ist nichts mehr wie zur Zeit Ludwigs XIV. Aber Persien ist in diesen Büchern unverändert geblieben, unwandelbar. Wie in einer Serie von Bildern erstarrt, als ob es unfähig wäre zur Veränderung, so jedenfalls die Entscheidung des Verlegers, was de facto ein Urteil über eine Kultur, ein historisches Urteil ist. So fährt man also in Frankreich bis ins 19. Jahrhundert fort, Werke, die zweihundert Jahre früher geschrieben und gedruckt wurden, als wissenschaftliche Bücher zu veröffentlichen!
     
    U. E.: Manchmal sind Bücher falsch. Manchmal sind dabei aber auch unsere Irrtümer oder verstiegenen Interpretationen im Spiel. In den sechziger Jahren habe ich einen Sketch geschrieben, publiziert in Diario Minimo . Ich stellte mir da eine künftige Zivilisation vor, die auf dem Grund eines Seesin einem Titanbehälter Dokumente findet, die Bertrand Russell dort sicher verwahrt hat, zu der Zeit, als er Märsche gegen die Atomkraft organisierte und als wir von der Bedrohung durch die atomare Vernichtung buchstäblich besessen waren, mehr als heute (nicht, dass die Bedrohung geringer geworden wäre, im Gegenteil, aber wir haben uns daran gewöhnt). Der Witz bestand darin, dass die geretteten Dokumente in Wirklichkeit Schlagertexte waren. Die Philologen der Zukunft versuchten also, ausgehend von diesen Schlagern, die als der Gipfel der Poesie unserer Zeit gedeutet wurden, zu rekonstruieren, wie diese verschwundene Zivilisation, die unsere, gewesen sein mochte.
    Später habe ich erfahren, dass mein Text in einem Seminar von griechischen Philologen diskutiert wurde und die Wissenschaftler sich fragten, ob die Fragmente der griechischen Dichter, die sie untersuchten, nicht von derselben Art seien.
    Man sollte in der Tat niemals versuchen, die Vergangenheit ausgehend von nur einer einzigen Quelle zu rekonstruieren. Der zeitliche Abstand macht im Übrigen gewisse Texte resistent gegen jede Interpretation. Zu diesem Thema habe ich eine hübsche Geschichte parat. Vor ungefähr zwanzig Jahren fragte sich die NASA oder eine andere amerikanische Regierungsbehörde, wo genau man die nuklearen Abfälle vergraben sollte, die bekanntlich für die Dauer von zehntausend Jahren – jedenfalls eine astronomisch hohe Zahl – ihre radioaktive Strahlung behalten. Das Problem war: Wenn das Gelände dafür irgendwo gefunden werden konnte, so wusste man nicht, mit welcher Art von Zeichen man darauf hinweisen sollte, dass der Zutritt verboten war.
    Haben wir nicht im Lauf von zwei- oder dreitausend Jahren den Schlüssel zur Entzifferung

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